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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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überraschte mich gleich dreifach. Irgend etwas in mir hatte nicht erwartet, etwas anderes vorzufinden als das, wegen dessen es mich hierher getrieben hatte. Die Aufgabe. Rache zu...
    Und ich selbst, ich durfte doch wohl auch überrascht sein. Solche Laute.
    Stille.
    Jetzt wieder. Da trampelte was und wandte sich und keuchte ganz tief aus voluminöser Kehle. Etwas hatte Angst, Todesangst, war in Panik; passiert war etwas, das nicht passiert hätte sein dürfen. Es kam vom Berg her, das Röcheln und Klopfen, vom Loch her. Das Loch hatte sich im rechten Bereich des Berges aufgetan, von meinem Standort aus betrachtet.
    Was nun? Noch länger hier herumstehen? Wollte ich nicht, wollte rückwärts, davon laufen, aufs Fahrrad steigen. Mathe.
    Ooouuuuhhhaaaa! Rrrrrrtttt!
    So klang das. Musste ich denn unbedingt wissen, was das war? Anscheinend, denn es trieb mich vorwärts, vorsichtig, Schritt für Schritt, aber ohne Option darauf, umzukehren.
    Das Gestrüpp vor mir lichtete sich weit genug, um etwas Braunes, sich Buckelndes und Zappelndes zu erkennen. Das war...
    Mir blieb die Luft weg. Sollte ich mich davor fürchten oder Mitleid haben, lieber umkehren oder was tun? Aber wenn etwas tun – was bloß tun?
    Einem jungen Hirsch war widerfahren, was mir fast passiert wäre beim letzten Mal. Mit den Hinterbeinen eingebrochen und in das Loch gerutscht. Jetzt hing er da, ein Zweiender, mit dem Rücken zu mir, Oberkörper und Vorderläufe aus dem Loch ragend, aufgestützt wie ein Mensch auf seinen Ellenbogen, ein groteskes Bild.
    Er bemerkte mich, starrte mich aus riesengroß herausgedrehten Augen an. Sein Oberkörper wippte, so sehr strampelte er unterirdisch mit den Hinterläufen. Wenn er so weiter zappelte, musste er hinein rutschen, aber das geschah nicht. Vielleicht berührte er mit den Läufen gerade so den Untergrund im Loch und konnte sich immer wieder nach oben schieben – gerade genug, um das Stückchen auszugleichen, das sein Gezappel ihn hineinrutschen ließ.
    Er ist ein Hindernis, nichts weiter. Beseitige es.
    Wie bitte?!
    Er braucht Hilfe!
    Wenn du’s so sehen willst.
    Ich kümmerte mich nicht um die widerstreitenden Stimmen in meinem Kopf. Die hatte es doch schon immer gegeben, oder?
    Ganz nah an das Loch hatte ich mich inzwischen heran getastet.
    „ Nicht zappeln“, flüsterte ich. „Nicht zappeln, ich helf dir ja.“
    Mit vorsichtigen Schritten trat ich an seine Seite und leuchtete in das Loch.
    Da stand ein Schrank. Ohne Zweifel. Und die Hirschläufe hatten die Lasur zerkratzt mit ihrem spastischen Gezappel. Ohne den Schrank wäre er längst in den Hohlraum gestürzt und hätte sich die Beine gebrochen.
    Wie konnte ich so sicher sein, dass es sich um ein Möbel handelte? Ganz einfach, weil der Schrank an einer Zimmerwand stand. Auch die Blümchentapete hatte beim Durchsturz der Decke und durch verirrte Hirschtritte gelitten.
    Der Hirsch keuchte und jammerte. Er hatte sich beruhigt. Oder ich hatte ihn beruhigt. Ich legte ihm die Hand auf den Rücken. Ein Zucken lief unter seinem verschwitzten Fell hindurch, aber er ließ meine Berührung ohne Gegenwehr geschehen.
    „ Ich muss dich jetzt grob anfassen“, flüsterte ich in der Nähe seines Ohres, „aber das mache ich nur, um dir zu helfen.“
    Ich schaute ihn von der Seite an, und er verdrehte sein schwarzes, glänzendes rechtes Auge zu mir nach hinten wie zum ängstlichen Einverständnis.
    „ Okay? Dann wollen wir mal.“
    Ich legte die Taschenlampe ab, ging in die Knie, beugte mich nach vorn und packte ihn mit beiden Fäusten am Geweih. Wie auf Kommando machte er einen Satz nach vorn, als wolle er sich das nun doch nicht gefallen lassen und mich nieder rennen. Im selben Augenblick zerrte ich mit aller Kraft und warf mich nach hinten. Er fasste Tritt, stemmte sich mit meiner Hilfe aus dem Loch und machte mit den Vorderläufen noch eine nachsetzende Kriechbewegung. Ich ließ mich gerade rechtzeitig zur Seite fallen, da war er auf den Beinen, mit drei Sätzen an mir vorbei und zick-zack im Gebüsch verschwunden.
    Nun aber!
    Blümchentapeten.
    Erst mal sammeln. Was nur war das hier für ein Berg?
    Ein Berg mit unterirdischen möblierten Zimmern. Und niemand wusste davon?
    Mal reinleuchten.
    Auf dem Bauch kroch ich zum Loch. Das hatte ich in einem Artikel über Rettungsregeln bei Eiseinbrüchen gelesen. Aber letztlich war drauf gepfiffen. Denn ich wollte da runter, und ob fallen oder steigen war ja wohl egal. Das war, als ob man mit höchster Vorsicht zu einem
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