Inferno - Höllensturz
Mephistopolis.
Die Silhouette der Stadt mit ihren Häusern, Wolkenkratzern und Türmen wirkte unwirklich vor dem weinroten Horizont. Sie war wahrlich gewaltig. Zu ihrer Linken wie zur Rechten erstreckte sich die Stadt weiter, als Cassie sehen konnte.
Rauch – eher schwarzem Dunst ähnlich – stieg von der Stadt in den Himmel auf, neben Myriaden von vielfarbigen Lichtstrahlen, die Cassie als Scheinwerfer identifizierte. Vögel, oder besser gesagt geflügelte Kreaturen , segelten in der Ferne davon.
Der Anblick des Ganzen verschlug ihr den Atem.
Die anderen waren inzwischen auch über die Schwelle getreten und standen hinter ihr. Sie schienen Cassies sprachlose Ehrfurcht zu bestaunen.
»Nicht übel, was?«, meinte Via.
»Dagegen wirkt Chicago wie ein Provinznest.«
»Ich konnte es auch kaum fassen, als ich es zum ersten Mal sah. Konnte nicht glauben, dass ich hier die Ewigkeit verbringen sollte.«
Endlich konnte Cassie wieder sprechen. Sie blickte noch einmal nach rechts und links. »Es hört nicht auf.«
»Eigentlich schon«, erklärte Xeke. »Schon mal die Offenbarung des Johannes gelesen? In Kapitel einundzwanzig beschreibt Johannes die tatsächlichen physischen Ausmaße des Himmels, daher hat Luzifer mit Absicht dieselben Dimensionen bei seinen Originalentwürfen für die Hölle benutzt. Zwölftausend Stadien. Das macht über 2200 Kilometer in der Länge und noch mal 2200 Kilometer in der Breite – die Fläche hat also fast 5 Millionen Quadratkilometer. Wenn du alle Großstädte auf der Erde zusammenrechnest … dann ist diese immer noch größer.«
Cassie konnte sich diese Dimensionen nicht so recht vorstellen. »Also baut Luzifer an dieser Stadt, seitdem er bei Gott unten durch ist?«
»Genau. Besser gesagt, seine Günstlinge tun das. Die meisten, die in die Hölle kommen, werden auf die ein oder andere Art in die Arbeit eingebunden. In gewissem Sinne ist die Mephistopolis genau wie jede andere Stadt: Es gibt Geschäfte und Parks und Bürogebäude, ein öffentliches Verkehrssystem und Polizisten und Krankenhäuser, Kneipen, Konzerthallen, Apartmentanlagen, in denen Leute wohnen, Gerichte, wo Verbrecher für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden, Regierungsgebäude, in denen Politiker herrschen. Genau wie in jeder anderen Stadt – beinahe zumindest.«
Via übernahm das Reden. »In der Mephistopolis werden die Leute nicht geboren – sie treffen ein. Und sie leben ewig. Und während auf der Erde die soziale Ordnung auf dem Streben nach Frieden und Harmonie unter den Bewohnern aufbaut …«
»Ist die soziale Ordnung in der Hölle das Chaos«, beendete Xeke.
»Ihr habt Demokratie, wir haben Dämonokratie. Ihr habt Physik und Naturwissenschaften, wir haben schwarze Magie. Ihr habt Barmherzigkeit und Wohlwollen, wir haben systematischen Horror. Das ist der Unterschied. Luzifers sozialer Entwurf muss als genaues Gegenteil von Gottes Entwurf funktionieren, denn Luzifer hat all das aufgebaut, um das Wesen zu beleidigen, das ihn hierher verbannte.«
»Also liegt sie nicht unterirdisch, wie man sagt?«, fragte Cassie. »Sie ist nicht irgendwo auf der Erde?«
»Sie liegt auf einer anderen Erde, die denselben Raum beansprucht«, erklärte Xeke. »Sie ist einfach nur eine andere Existenzebene, die Gott geschaffen hat. Genau wie der Himmel.«
»Wenn man also stirbt«, begann Cassie.
»Dann kommt man entweder in den Himmel oder hierher. Genau wie es in der Bibel steht. Wie es die meisten Religionen vermuten.« Xeke zog eine Augenbraue hoch. »Eigentlich keine besonders große Überraschung.«
Während Cassie weiterhin auf die Stadt in der Ferne starrte, überschlugen sich in ihrem Kopf unzählige Fragen. Wie sollte sie auf alle Antworten finden?
»Gehen wir einfach weiter«, schlug Via vor, als könnte sie Gedanken lesen. »Deine Fragen werden sich dann alle beantworten.«
Und so war es auch.
Nun träumte Cassie von der Stadt – ein Jahr später. Sie lag dabei nicht in einem normalen Bett, sondern in einem besseren Feldbett in der geschlossenen Abteilung einer Privatklinik für psychisch Kranke. Sie war tatsächlich mit Via, Hush und Xeke in der Mephistopolis gewesen, um Lissa zu finden. Das Einzige, was Cassie sich wirklich wünschte, war Lissa zu sagen, wie Leid ihr alles tat, was geschehen war. Ihre neu entdeckten Kräfte als Tochter des Äthers würden ihr das ermöglichen – zumindest dachte sie das. Hunderte von Gassen lief sie auf und ab und Hunderte qualmender Straßen; durch
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