Inferno
nutzen war zwar übertrieben, doch würde die Fahrt zumindest schnell und privat sein. Bis zum Markusplatz waren es nur fünfzehn Minuten.
Der Fahrer war ein gutaussehender Mann in einem maßgeschneiderten Armani-Anzug. Ein Bootsführer, der eher wie ein Filmstar aussah, doch das hier war immerhin auch Venedig, der Inbegriff italienischer Eleganz.
»Maurizio Pimponi«, stellte sich der Mann vor und zwinkerte Sienna zu, als er sie an Bord willkommen hieß. »Prosecco? Limoncello? Asti?«
»No, grazie«, antwortete Sienna knapp und bat ihn stattdessen, sie so schnell wie möglich zum Markusplatz zu bringen.
»Ma certo!« Maurizio zwinkerte erneut. »Meine Boot ist schnellste in ganz Venedig …«
Während Langdon und die anderen es sich auf den weichen Sitzen im offenen Heck bequem machten, legte Maurizio den Rückwärtsgang ein und lenkte das große Boot geschickt vom Ufer weg. Dann drehte er das Steuerrad nach rechts, gab Gas und manövrierte das Gefährt zwischen den dichtgedrängten Gondeln hindurch. Ein paar Gondolieri in ihren Streifenhemden schüttelten wütend die Faust, als ihre Boote in Maurizios Kielwasser auf und ab hüpften.
»Scusate!«, rief Maurizio entschuldigend. »VIPs!«
Binnen weniger Sekunden hatte er das Gedränge am Bahnhof Santa Lucia hinter sich gelassen, und sie rasten nach Osten über den Canal Grande. Als sie unter dem elegant geschwungenen Ponte degli Scalzi hindurch beschleunigten, roch Langdon den typisch aromatischen Duft einer venezianischen Delikatesse – Seppie al nero , Tintenfisch in eigener Tinte –, der von den Terrassen der Restaurants am Ufer zu ihnen hinüberwehte. Dann fuhren sie um eine Biegung, und die massive Kuppelkirche von San Geremia kam in Sicht.
Langdon entdeckte eine Inschrift auf der Kirchenwand. Es war der Name einer Heiligen. »Santa Lucia«, flüsterte er.
»Wie bitte?« Sienna sah ihn hoffnungsvoll an. Hatte er wieder etwas über das mysteriöse Gedicht herausgefunden?
»Nichts, nichts«, antwortete Langdon. »Nur so ein Gedanke.« Er deutete zu der Kirche. »Siehst du die Inschrift? Dort liegt die heilige Lucia begraben. Dann und wann halte ich Vorlesungen über hagiografische Kunst, christliche Heiligendarstellungen. Mir ist gerade eingefallen, dass die heilige Lucia die Schutzheilige der Blinden ist.«
»Si, Santa Lucia!«, stimmte Maurizio eifrig zu. »Sie ist Heilige der Blinden! Kennen Sie Geschichte, oder?« Ihr Fahrer drehte sich zu ihnen um und schrie über den Motorlärm hinweg. »Lucia war so schöne Frau, dass alle Männer hatten Lust auf sie. Also stach Lucia sich selbst Augen aus, um zu bleiben Jungfrau und rein vor unsere Gott im Himmel.«
Sienna stöhnte. »Das nenne ich mal engagiert.«
»Und als Belohnung für Opfer«, fuhr Maurizio fort, »Gott geben Lucia sogar noch schönere Augen!«
Sienna drehte sich zu Langdon um. »Er weiß schon, dass das keinen Sinn ergibt, oder?«
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, bemerkte Langdon und rief sich die gut zwanzig berühmten Gemälde der Alten Meister in Erinnerung: allesamt Darstellungen der heiligen Lucia, die ihre Augen auf einem Tablett trug.
Zwar gab es zahlreiche unterschiedliche Versionen von der Legende der heiligen Lucia, doch beschrieben alle, wie sie sich eigenhändig die Augen ausstach, die solche Begierde bei den Männern weckten. Sämtliche Legenden schilderten auch, dass sie die Augen ihrem glühendsten Verehrer auf einem Tablett mit den Worten präsentierte: »Hier hast du, was du so sehr begehrst. Und was den Rest betrifft, so flehe ich dich an, lass mich in Frieden!« In gewisser Weise war es unheimlich, dass ausgerechnet die Bibel Lucia zu dieser Selbstverstümmelung inspiriert hatte, oder genauer Jesu berühmte Mahnung: »Und wenn dein Auge dir Anlass zur Sünde gibt, so reiß es aus und wirf es von dir.«
So wurde sie zur Heiligen der Blinden , dachte Langdon und erkannte, dass das gleiche Wort auch in dem Gedicht vorkam. Suchet den verräterischen Dogen von Venedig, der … die Knochen der Blinden raubte .
Verblüfft fragte er sich, ob mit der blinden Person in dem kryptischen Gedicht vielleicht Lucia gemeint war.
»Maurizio!«, rief Langdon und deutete zur Kirche von San Geremia. »Die Knochen der heiligen Lucia sind in dieser Kirche, nicht wahr?«
»Ein paar, ja«, antwortete Maurizio. Er steuerte das Boot geschickt mit einer Hand, blickte zu seinen Passagieren zurück und ignorierte den Verkehr vor sich. »Nicht alle. Santa Lucia sehr beliebt,
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