Inferno
mittendrin , dachte Langdon und suchte die Umgebung nach einem Fluchtweg ab – einer Kreuzung, einer Gasse, einem Park oder einer Einfahrt. Doch außer privaten Wohnhäusern zur Linken und einer hohen Steinmauer zur Rechten war weit und breit nichts zu sehen.
Die Sirenen wurden lauter.
»Da entlang!«, drängte Langdon und zeigte auf eine verlassene Baustelle dreißig Meter voraus. Dort stand ein einsamer Zementmischer, hinter dem sie ein wenig Deckung finden würden – besser als gar nichts.
Sienna manövrierte das Trike den Bordstein hinauf und fuhr auf die Baustelle. Sie parkten hinter dem Zementmischer und stiegen ab. Die Mischmaschine bot kaum genügend Deckung für das Trike.
»Kommen Sie!«, sagte Sienna und rannte auf einen kleinen portablen Werkzeugschuppen zu, der zwischen Büschen an der Mauer stand.
Das ist kein Schuppen , dachte Langdon und rümpfte die Nase, als sie sich näherten. Das ist ein Porta-Potty!
Als sie vor der chemischen Toilette ankamen, hörten sie hinter sich auf der Straße die Sirenen von Einsatzwagen. Sienna rüttelte an der Tür – verschlossen. Langdon packte Sienna beim Arm und zog sie um das Porta-Potty herum in die schmale Lücke zwischen Toilette und Mauer. Der Spalt war so eng, dass sie kaum hineinpassten. Es stank nach Fäkalien.
Langdon war gerade in Deckung gegangen, als ein pechschwarzer Subaru Forester der Carabinieri in Sicht kam und langsam an der Baustelle vorbeirollte.
Die gehören zum italienischen Militär , dachte Langdon ungläubig. Er fragte sich, ob die Beamten den Befehl hatten, zuerst zu schießen und dann Fragen zu stellen.
»Da meint es jemand verdammt ernst«, flüsterte Sienna. »Irgendwie haben sie uns gefunden.«
» GPS ?«, überlegte Langdon. »Vielleicht hat der Projektor einen eingebauten Sender?«
Sienna schüttelte den Kopf. »Glauben Sie mir, wenn das der Fall wäre, hätten sie uns schon längst.«
Langdon drückte sich ein wenig tiefer in den Spalt zwischen Toilette und Steinmauer und entdeckte eine Reihe von eleganten Graffiti, die jemand auf die Rückseite des Porta-Potty gemalt hatte.
Typisch Italiener .
Die meisten amerikanischen Mobiltoiletten waren mit pubertären Zeichnungen beschmiert, die riesige Brüste oder Penisse darstellen sollten. Die Graffiti vor Langdon hingegen erinnerten an Skizzen aus dem Buch eines Kunststudenten – ein menschliches Auge, eine wohlproportionierte menschliche Hand, ein Profil, ein phantastischer Drache.
»Beschädigung fremden Eigentums sieht nicht überall in Italien so hübsch aus«, sagte Sienna, die anscheinend seine Gedanken gelesen hatte. »Sie müssen wissen, hinter dieser Mauer befindet sich das Institut für Kunst der Universität Florenz.«
Wie um Siennas Worte zu bestätigen, erschien in diesem Augenblick eine Gruppe von Studenten. Sie näherten sich mit unter die Arme geklemmten Mappen, unterhielten sich lautstark, zündeten sich Zigaretten an und rätselten über die Straßensperre unten an der Porta Romana.
Langdon und Sienna duckten sich, um nicht entdeckt zu werden. Plötzlich trat Langdon ein Bild vor Augen, vielleicht angeregt durch den Fäkaliengeruch von der Chemietoilette oder die strampelnden nackten Beine des Liegeradfahrers einige Minuten zuvor. Wie auch immer, mit einem Mal war er zurück in der stinkenden Welt des Malebolge, an der Stelle, wo die Sünder kopfüber und mit in der Luft zappelnden Beinen im Boden steckten.
Er sah seine Begleiterin an. »Sienna, in unserer Version von La Mappa sind die zappelnden nackten Beine in der zehnten Grube, richtig? Auf der untersten Ebene des Malebolge?«
Sienna bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick, als wäre dies kaum der geeignete Moment. »Ja. Ganz unten.«
Für einen Moment kehrten Langdons Gedanken zurück zu seinem Vortrag in Wien. Er stand auf dem Podium, kurz vor dem großen Finale, nachdem er dem Publikum Dorés Holzschnitt von Geryon gezeigt hatte, dem geflügelten Monster mit dem Giftstachel, das unmittelbar über dem Malebolge hauste.
»Bevor wir uns zu Satan begeben«, sagte Langdon, »passieren wir die zehn Gruben des Malebolge, in denen die Arglistigen bestraft werden – jene, die mit Absicht gesündigt haben.«
Langdon zeigte Dias mit Vergrößerungen des Malebolge und führte das Publikum der Reihe nach durch die Gruben. »Von oben nach unten haben wir hier die Verführer, ausgepeitscht von Dämonen; die Schmeichler, in menschlichen Exkrementen treibend; die klerikalen Geschäftemacher,
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