Ingrid
Gesicht!«
»Magst du keine Leute um dich?« Ihre geröteten Wangen deuteten auf ein, zwei Gläser zu viel Cola-Rum hin.
»Nur nicht, wenn es zu viele sind. Musste dein Mann babysitten?«
Jennifer gab einen verächtlichen Laut von sich. »Ich habe keinen Mann. Tommy schläft oben, ich glaube, Ingrid ist gerade nach ihm gucken gegangen.«
»Alleine für ein Kind zu sorgen stelle ich mir nicht einfach vor. Arbeitest du auch noch?«
»Seit ich hierher gezogen bin, nicht mehr. Ich kriege Sozialhilfe, damit komme ich schon über die Runden.«
»Und was hast du vorher gemacht?«
Es war eine harmlose Frage, doch eine Wolke glitt über ihr Gesicht. »Ich habe im Autohandel gearbeitet.«
»Du bist also auch noch ziemlich neu auf dem Deich?«
»Tommy ist hier geboren, daran kannst du es dir ja ausrechnen, er ist zwei Jahre alt.«
»Mein kleiner Prinz.« Ingrid nahm auf der anderen Seite neben Jennifer auf dem Sofa Platz. »Ich habe ihm die Windel gewechselt. Er schläft tief und fest. Lass ihn heute Nacht ruhig hier, dann kannst du morgen ausschlafen.«
Jennifer griff nach ihrem Glas und schaute Ingrid spöttisch an. »Dabei könntest du ein bisschen Schlaf vermutlich besser gebrauchen als ich. Erst beinahe ertrunken, dann die Party …«
»Ich habe ihn gerne bei mir, das weißt du doch«, sagte Ingrid ein wenig tadelnd.
»Ja, natürlich«, antwortete Jennifer etwas sanfter. Sie wandte sich wieder mir zu. »Wenn Ingrid nicht wäre, könnte ich keinen Schritt tun, ohne Tommy mitzuschleppen. Dabei möchte sie noch nicht mal eigene Kinder haben.«
»Tommy ist eben etwas Besonderes.« Ingrid drückte Jennifers Hand. »Du weißt doch, wie verrückt ich nach ihm bin. Du sagst doch selbst immer …«
Jennifer lehnte sich zurück. »Was für ein Glück, dass er auch verrückt nach dir ist. Sonst hätte ich nie nach Aruba fahren können.«
»Nach Aruba?«, fragte ich, um mich ein wenig am Gespräch zu beteiligen.
Sie lachte kurz auf. »Zwei Wochen Auszeit, ohne irgendwelche anderen Sorgen, als mir die Indianer vom Leib zu halten. Ingrid hat solange auf Tommy aufgepasst. Sie sind im Vergnügungspark De Efteling und in Madurodam gewesen.«
»Ich habe mich so über deinen Brief gefreut«, sagte Ingrid. »Hast du ihn im Flugzeug geschrieben?«
Jennifer nickte. Die Erinnerung daran schien sie zu ernüchtern. »Ich habe wahnsinnige Flugangst«, bekannte sie. »Ich war so froh, dass Tommy bei dir war … Ich habe das wirklich ernst gemeint. Ich wüsste nicht, wo ich Tommy lieber aufgehoben sähe, falls mir einmal etwas passieren sollte.«
»Aber was soll dir denn hier passieren?«, fragte ich. »Sogar der Fluss ist zu friedlich, um darin zu ertrinken.«
Ingrid kicherte, doch Jennifer wirkte immer noch bedrückt. Vielleicht machte der Alkohol sie depressiv. »Man braucht nur einmal nicht aufzupassen, wenn man über die Straße geht«, murmelte sie. »Oder eine verirrte Kugel abzukriegen.«
»Jetzt hör doch auf, Jen«, sagte Ingrid. »Du wirst hundert Jahre alt werden, und das bestimmt nicht alleine. Der Sohn von Versteeg kann seine Augen nicht von dir abwenden und das zu Recht, denn du bist wirklich ein Schatz.« Sie schaute mich warnend an. »Du bist zu alt für sie, aber du wirst auch noch dahinter kommen, was für eine wunderbare Frau neben dir im Heuschober wohnt.«
Die ›wunderbare Frau‹ wirkte aufgemuntert, wie eine ausgetrocknete Pflanze, die endlich gegossen wird. »Tommy ist ihn heute Mittag schon ganz von sich aus besuchen gegangen.«
»Er kam aber mehr wegen der Kaninchen«, bemerkte ich.
»Hat dich Rob Versteeg denn endlich mal gefragt, ob du mit ihm ausgehen willst?«, neckte Ingrid sie. Jennifer errötete. »Ach, hör doch auf.«
Frauen, Kinder, Liebhaber. Ich stand auf. »Wie Jenny schon sagte: Heute ist ein denkwürdiger Tag gewesen …«
Ingrid sagte: »Du kannst doch jetzt noch nicht gehen, ich möchte gleich noch mit dir tanzen. Und das ist ja wohl das Mindeste, was eine Nachbarin an ihrem Geburtstag mit dem neuen Nachbarn machen sollte.«
Jennifer kicherte.
Ich flüchtete in den Rauch von Zigarren gemischt mit einem Hauch von Marihuana und Stimmen, die allmählich undeutlicher wurden. Draußen sorgten Lampions für jene Beleuchtung, die zu Treppenstufengestolper, Tritten in Hundescheiße und Gefummel auf der Tanzfläche führt. In einer Ecke des Raumes wachte Anita über ein Schlachtfeld von Flaschen, Gläsern und Schalen auf einem mit Wein befleckten Tischtuch. Ich piekte einen Zahnstocher
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