Innere Werte
so viele Ergebnisse aus. Bestimmt ist was Brauchbares dabei.«
»Das will ich doch schwer hoffen.«
»Ich erkundige mich bei der KTU, ob die schon was wissen.«
»Und ich spreche mit Stieber.«
Martin hatte das Gefühl, nicht länger ruhig auf seinem Stuhl sitzen zu können, und beschloss deshalb, Stieber nicht anzurufen, sondern zu ihm zu fahren.
Als Martin vom Parkplatz auf die Gerichtsmedizin zuging, blies er seinen Atem wie frostig-weiße Fahnen vor sich her. Die kalte Morgenluft tat gut. Er hatte das Gefühl, sie puste ihm den Kopf frei.
Stieber saß in seinem Büro, trank Kaffee und blätterte in irgendwelchen Papieren.
»Ah, Sandor. Zu so früher Stunde schon unterwegs?«
»Ich wollte doch persönlich vorbeikommen, um Ihnen frohe Weihnachten zu wünschen.«
»Netter Versuch«, lächelte der Arzt. »Aber ich kenne Sie. Was haben Sie auf dem Herzen?«
»Zwei Dinge. Es geht um Anja Schulte.«
»Die Waldfee!«
»Ja. Ich möchte wissen, ob es möglich gewesen ist, dass sie das Kalium kurz vor zweiundzwanzig Uhr bekommen hat und erst um dreiundzwanzig Uhr zwanzig gestorben ist.«
Stieber wiegte den Kopf hin und her, ehe er antwortete: »Ich würde sagen, das hängt davon ab, wie stark sie zu dem Zeitpunkt schon alkoholisiert war.«
»Ich hätte gern eine Antwort auf beide Möglichkeiten. Also mit und ohne Alkohol.«
»Sollte sie zum Zeitpunkt, als sie das Kalium eingenommen hat, schon alkoholisiert gewesen sein, halte ich es für unwahrscheinlich, dass der Tod erst so viel später eingetreten ist. Hat sie erst anschließend getrunken, ist es theoretisch möglich, dass sich der Tod so lange hingezogen hat.«
»Theoretisch? Ein Wort, das ich liebe.«
»Und das in diesem Fall bedeutet, dass ich letzteres Szenario für unwahrscheinlich halte. Durch das geringe Körpergewicht müsste das Kalium sie eigentlich kurz nach der Einnahme so geschwächt haben, dass es ihr sicher nicht mehr möglich gewesen wäre, so viel Alkohol zu trinken, um die Promillezahl zu erreichen, die wir gemessen haben.«
»Im Klartext heißt das also, sie hat das Kalium kurz vor dem Zeitpunkt ihres Todes genommen. Und damit haben Sie, lieber Doktor, einem meiner Verdächtigen ein Alibi gegeben.«
Stieber krauste fragend die Stirn.
»Ich nehme das jetzt mal so hin«, sagte Martin ohne weitere Erklärung, »auch wenn’s mir irgendwie den Tag versaut.«
»Vielleicht kann Sie ein guter Kaffee versöhnlich stimmen?«
»Wär einen Versuch wert.« Martin lächelte den Mediziner an und nahm den dampfenden Becher, den er ihm reichte, entgegen.
»Was ist Ihr zweites Anliegen?«, fragte Stieber nach einem Moment des Schweigens.
»Halten Sie es für möglich, dass man unserem Toten aus der Kläranlage illegal eine Niere entnommen hat?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Das war so ein Gedanke auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: Was wurde bei dem Toten operiert? Die Idee von der Niere drängte sich mir auf dem Weihnachtsmarkt beim Anblick von Nierenspießen auf.«
»Na, Sie haben ja nette Assoziationen.« Stieber lächelte kopfschüttelnd. »Aber rein theoretisch ist das schon möglich.«
»Und was macht jemand mit einem herausgeschnittenen Organ? Das kann man doch nicht einfach nehmen und jemand anderem einpflanzen.«
»Warum nicht? Im Ausland geht das auch, ob legal oder illegal, aber es geht und wird skrupellos praktiziert. Gehen Sie nach Brasilien. Einige Straßenkinder dort dienen der westlichen Welt als Organlieferanten. Schauen Sie auf die Philippinen. Dort können Häftlinge durch eine Nierenspende ihr Strafmaß verringern. Oder China, wo Hingerichtete zur Transplantation zur Verfügung gestellt werden.« Stieber winkte ab. »Es gibt zahlreiche Beispiele.«
»Aber doch nicht in Deutschland.«
»Bis jetzt nicht, aber Sie wissen doch: Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen. Möglich ist grundsätzlich alles. Das sagen Sie doch immer. Wir beide wissen nur zu gut, wie viel kriminelle Energie überall lauert. Und nur, weil wir es uns nicht vorstellen können oder wollen, ist es noch lange nicht unmöglich.« Stieber nahm einen Schluck aus seinem Becher, bevor er weitersprach. »Ich weiß nicht, ob Sie je von diesem Volkswirtschaftsprofessor Oberender aus Bayreuth gehört haben. Der fordert die Freigabe des Organhandels. Wenn’s nach ihm geht, soll jeder seine Organe verkaufen dürfen, damit Bessergestellte in unserer Zwei-Klassen-Medizin nicht auf die Warteliste für eine Organtransplantation
Weitere Kostenlose Bücher