Innere Werte
die einen etwa sechzehnjährigen Jungen im Schlepptau hatte und sich als Emma Klasen vorstellte. Sie war mittelgroß und leicht rundlich, hatte kurze, braune Locken und auffällige, große Augen.
»Wir wohnen im Lessingweg in Nordenstadt«, erklärte sie eifrig, nachdem sie sich gesetzt hatten. »In dem selben Haus wie Frau Buhr und Herr Bielmann. Sie wissen schon, der Mann, der ermordet wurde.«
»Ja, ich weiß«, sagte Dieter und war gespannt, was jetzt wohl kommen würde.
»Also, der Herr Kommissar war ja bei uns und hat uns befragt. Leider konnten wir ihm gar nichts sagen. Die beiden sind ja auch erst eingezogen. Da kennt man sich noch nicht so gut. Eigentlich nur so vom Sehen. Sie wissen ja sicher, wie das ist. Jeder hat so viel mit sich zu tun, da kann man sich nicht sofort um neue Nachbarn kümmern.« Das klang wie eine Entschuldigung. »Jedenfalls haben wir die Sache in der Familie besprochen. Man redet natürlich über sowas. Es wird ja nicht jeden Tag ein Nachbar ermordet.« Sie zog die Augenbrauen hoch, wodurch ihre Augen noch größer wurden und ihr Gesicht einen erschrockenen Ausdruck bekam. »Das ist ja ganz furchtbar. Man denkt ja immer, so was passiert nicht in der eigenen Umgebung. Da ist man dann doch irgendwie geschockt.«
Die Frau redete in einem Tempo, dass es einem beim Zuhören fast schwindelig wurde. Paul und Dieter warfen sich einen verstohlenen Blick zu.
»Wir haben davon ja auch schon in der Zeitung gelesen, aber niemand hätte ja gedacht, dass das jemand ist, den man kennt. Naja, wie schon gesagt, kennen ist vielleicht zu viel gesagt, aber –«
Dieter unterbrach Emma Klasen. »Sie sind doch sicher hier, um uns etwas Wichtiges mitzuteilen, nicht wahr?«
»Ja, ja, genau. Wobei … ich kann Ihnen gar nichts sagen, weil … ich habe ja leider nichts gesehen.« Und das machte ihr offensichtlich zu schaffen, ihrem betrübten Gesichtsausdruck nach zu urteilen. »Aber der Thomas, der hat was beobachtet. Und da hab ich gesagt, das muss der Herr Kommissar unbedingt wissen. Man weiß ja nicht, ob das was zu bedeuten hat. Aber möglich ist es ja und da –«
Erneut ergriff Dieter das Wort. »Na, das ist ja ganz prima.« Er wandte sich direkt dem Jungen zu, der ihm eingeschüchtert gegenübersaß. »Du bist also Thomas Klasen?«
Der Junge nickte. Neben seiner Mutter wirkte er zwar schmächtig, war ihr aber ansonsten so ähnlich, dass es Dieter verblüffte. Selten hatte er Kinder gesehen, die einem Elternteil derart glichen. Thomas war mit seinem braunen Lockenkopf, der relativ kleinen Nase und den großen Augen im rundlichen Gesicht das männliche Duplikat seiner Mutter.
»Erzähl uns doch mal, was du gesehen hast.«
»Also«, begann er und warf seiner Mutter einen unsicheren Blick zu. Die nickte, wieder mit hochgezogenen Brauen. »Da war der Herr Bielmann auf der Straße. Der stand da mit einer Tasche und hat gewartet. Ich bin gerade mit dem Fahrrad aus dem Keller gekommen.«
»Er hatte später Schule«, ergänzte Emma Klasen. »Er fährt immer mit dem Rad.«
»Wann war denn das?«, fragte Dieter.
»Am letzten Freitag, so um zehn.«
»Und dann?«
»Dann ist ein Taxi gekommen und er ist eingestiegen und weggefahren.«
»Hast du mit Herrn Bielmann gesprochen?«
»Ich hab ihn gegrüßt und er hat auch hallo gesagt.«
»Du wusstest, wer er ist?«
»Ja, ich hab ihn beim Einzug gesehen und später dann noch mal.«
»Was für einen Eindruck hattest du von ihm?«
»Weiß nicht.« Thomas sah seine Mutter fragend an. Die nickte, als Zeichen, dass er antworten sollte. »Ich glaub, er war nett. Er hat immer freundlich gegrüßt und mich angelacht.«
»So war das dann auch an dem Freitagmorgen?«
»Ja, aber da hat er nicht gelacht. Der war irgendwie in Gedanken. Er hat ganz nervös seine Tasche immer von der einen Hand in die andere genommen. Das hab ich gesehen, als ich meinen Rucksack auf den Gepäckträger geschnallt hab.«
»Vielleicht hatte er es eilig«, vermutete Emma Klasen. »Und wenn das Taxi dann spät dran ist, kann man schon nervös werden.«
»Das stimmt wohl.« Dieter nickte bestätigend. »Hast du Herrn Bielmann später nochmal gesehen?«
»Nein.«
Dieter erhob sich. »Tja, Thomas, dann danke ich dir, dass du uns das erzählt hast. Das könnte tatsächlich wichtig sein.« Er reichte Thomas die Hand und spürte seinen sanften Händedruck. Dieters Blick erwiderte er nur schüchtern.
»Das ist doch selbstverständlich«, meinte Frau Klasen ernst. »Ich hab gleich
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