INRI
und schrie. Er wand sich.
Es war kein Licht mehr am Himmel. Schwere Wolken verbargen Sterne und Mond.
Von unten kam Flüstern zu ihm herauf.
»Laßt mich herunter!« rief er. »Oh, bitte, laßt mich herunter!«
Ich bin nur ein kleiner Junge.
Hau ab, du Sau!
Der Schmerz füllte ihn ganz aus. Er japste nach Luft. Er sackte nach vorn, aber niemand befreite ihn.
Ein wenig später hob er den Kopf. Die Bewegung brachte die Schmerzen zurück, und er fing wieder an, sich am Kreuz zu winden. Er wurde langsam asphyktisch.
»Laßt mich herunter! Bitte! Bitte hört auf!«
Jeder Teil seines Fleisches, jeder Muskel und jede Sehne und jeder Knochen war von dem unmöglichen Schmerz ausgefüllt.
Er wußte, daß er den nächsten Tag nicht erleben würde, wie er zunächst geglaubt hatte.
Und um die neunte Stunde rief Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das ist verdolmetscht: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Markus 15, 34
Glogauer hustete. Es war ein trockenes, kaum hörbares Husten. Die Soldaten unter dem Kreuz hörten es, weil die Nacht jetzt sehr still war.
»Es ist komisch«, sagte einer. »Gestern beteten sie den Hund noch an. Heute schienen sie ihn umbringen zu wollen - selbst jene, die ihm am nächsten standen.«
»Ich werde froh sein, wenn wir aus diesem Land heraus sind«, sagte sein Kamerad.
Sie sollten ein Kind nicht töten, dachte er.
Er hörte Monicas Stimme wieder. »Es sind Schwäche und Angst, Karl, die dich dazu getrieben haben. Märtyrertum ist eine Form von Eitelkeit.«
Er hustete noch einmal, und die Schmerzen kehrten zurück, aber sie waren jetzt dumpfer. Sein Atem wurde flacher.
Kurz bevor er starb, begann er wieder zu sprechen, stammelte, bis er zu atmen aufhörte. »Es ist eine Lüge - es ist eine Lüge - es ist eine Lüge…«
Später, nachdem die Diener einiger Ärzte seine Leiche gestohlen hatten, weil ihre Herren glaubten, sie könnte besondere Eigenschaften haben, gab es Gerüchte, er sei nicht gestorben. Aber die Leiche verweste schon in den Sezierräumen der Ärzte. Bald sollte sie vernichtet sein.
NACHWORT
I.N.R.I.
Die Gretchenfrage
Nachwort von Florian F. Marzin
Der 1969 erschienene Roman I.N.R.I. oder Die Reise mit der Zeitmaschine (Behold the Man) ist die erweiterte Fassung der gleichnamigen Erzählung von Michael Moorcock aus dem Jahre 1967, die 1968 mit dem Nebula Award ausgezeichnet wurde und damals wie heute einen der kompromißlosesten Texte der Science Fiction darstellt.
M. Moorcock nimmt das seit H. G. Wells bekannte Motiv der Zeitreise und benutzt es zu einer Auseinandersetzung mit der Religion, d.h. mit der Gestalt Christi, wie sie im Neuen Testament beschrieben wird.
Es fehlte bis zu diesem Zeitpunkt (1967) nicht an Time Travel Stories bzw. Romanen, es sei nur an Robert A. Heinleins: All You Zombies und L. Sprague De Camp: Lest Darkness Fall erinnert, doch machten diese, wenn man einmal von Mark Twains mehr auf die Parodie abzielenden Roman A Connecticut Yankee in King Arthur's Court absieht, einen weiten Bogen um historisch exponierte Gestalten.
Auf der anderen Seite hatte sich die Science Fiction auch schon mit Religion und dem Christentum beschäftigt, wie P. J. Farmers The Lovers, Olaf Stapletons Star Maker, James Blish A Case of Conscience oder W. M. Millers A Cantide for Leibowitz beweisen.
Doch es blieb M. Moorcock vorbehalten in I.N.R.I. Diese beiden Aspekte zu verbinden und einen Roman zu schaffen, der in bis dahin - auch für die Science Fiction - nicht denkbarer Konsequenz ein sakrosanktes Thema behandelte.
Nun sag, wie hast du's mit der Religion? - ist die Frage, die der Science Fiction in I.N.R.I. gestellt wird. Jene Frage, die Gretchen bekanntermaßen an Faust richtet, wird von M. Moorcock in seinem Roman eindeutig beantwortet: Es gibt das Christentum, weil vor 2000 Jahren aus der Kenntnis des Mythos von Christi Leiden, dieser selbst erst geschaffen wurde. Alles Göttliche, was im Neuen Testament zum Ausdruck kommt, hat seinen Ursprung in der Gestalt eines körperlich mißgestalteten, geistig behinderten Schwachsinnigen, der - Bastard einer promiskuren Mutter - dem in jeder Beziehung ärmlichen Zimmermann Josef aus den Geschlecht Davids untergeschoben wurde.
Hier wird nicht der Mythos Jesus zerstört, und das, nachdem seit einiger Zeit Archäologen die Existenz einer geschichtlich verbürgten Gestalt Jesu von Nazareth nachgewiesen zu haben glauben, sondern ohne diese Tatsache - inzwischen ist auch das Turiner Grabtuch
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