Ins dunkle Herz Afrikas
weiter sie ihren Lebensweg ging.
Verlangend sah sie zurück in der Zeit. Der Weg, der hinter ihr lag, war länger als der, den sie vor sich sah. Traurigkeit, dieser düstere Vogel, ließ sich auf ihrer Schulter nieder, breitete seine schwarzen Fittiche über ihr aus.
»Wisst ihr, dass es Gerüchte gibt, dass de Klerk Mandela freilassen will?« Neu hatte seine Augen geschlossen, redete mehr zu sich selbst. »Ein ... Bekannter von mir, der mitten im Wespennest sitzt, hat mir das erzählt.«
Als hätte eine Bombe eingeschlagen, fuhren alle hoch. Mandela frei? Henrietta wusste, dass Anfang Oktober Walter Sisulu, einer der führenden ANC-Köpfe, zusammen mit sechs anderen Mitstreitern von Robben Island freigelassen worden war - aber Mandela?
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»Das glaub ich nicht!«, riefen alle gleichzeitig, lan hatte die lauteste Stimme. »Der lässt sich doch nie begnadigen, das hätte er doch schon Vorjahren haben können!« »Nein, nein, freilassen, ohne Bedingung.«
Tita unterbrach ihren Mann. »Dann versinkt Südafrika in einem Blutbad!« Ihre Bestürzung zeigte deutlich, dass sie das als unausweichlich ansah.
Henrietta umklammerte die große Tasse Kaffee mit beiden Händen, konnte nichts sagen. Die Strande offen, Mandela frei, der Anfang vom Ende der Apartheid?
Freiheit für alle - auch für sie und lan, Freiheit, hierher zurückzukehren?
Das Blut rauschte durch ihre Adern, sie atmete tief durch, ließ die weiche, jasminschwere Luft in sich hineinströmen. Zwei Mainas gurrten und schäkerten zärtlich miteinander, kehliges Zulu, lang gezogene Laute wie das Klingen von Harfensaiten wurden von dem leichten Wind zu ihr herübergetragen, über ihr segelte eine Schar weißer Ibisse. Sie sah ihnen nach, und das schwarze Gewicht hob sich von ihren Schultern, ein Vogelschrei verhallte in weiter Ferne. »Wir haben gestern ein bemerkenswertes Erlebnis gehabt«, erzählte sie und bot ihr Gesicht der Sonne dar, »auf dem Weg hierher wurden wir von einer riesigen Menschenmenge auf der Marine Parade aufgehalten, die, wie wir hörten, die Öffnung der Strande für alle Hautfarben feierten. Wir waren die einzigen Weißen dort, aber ich habe mich völlig sicher gefühlt. Es war - so unglaublich friedlich.«
Neu nickte. »Ich war schon frühmorgens da. Es war unbeschreiblich. Ich hatte erwartet, dass sie völlig über die Stränge schlagen würden. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung plötzlich frei zu sein - mein Gott, welche Gefühle muss das auslösen! Ich hätte mich nicht über betrunkene Randalierer gewundert, über Prügeleien und Geschrei.« Seine hellen Augen glänzten, seine Stimme klang rau.
»Nichts, nur diese stille Freude. Es ist mir ein Rätsel, woher diese Menschen die Kraft nehmen!« Henrietta stand auf, fand im kurz geschnittenen Rasen einen kreis-231
runden Fleck roter Erde, den Blattschneiderameisen freigelegt hatten. Sie setzte ihre Füße auf die harte Erde. Warm spürte sie die aufgebrochene Kruste unter ihren Sohlen, zerkrümmelte sie zwischen den Zehen zu pudrigem Staub. »Es ist die Liebe zu ihrem Land, Neil, die Kraft Afrikas.« Dann überfiel sie es, das überschäumende Glücksgefühl, auf das sie lange vergeblich gewartet hatte, die Enge in der Kehle, die Tränen des Glücks. Sie breitete ihre Arme aus, warf den Kopf zurück. Afrika! Sein würziger Atem füllte sie aus, strömte durch die kleinsten Verästelungen ihrer Adern bis in die Fingerspitzen. Die Ibisse unter ihr schwenkten herum und strichen über die Baumkronen den Hang zum Meer hinunter, waren bald nur noch glänzend weiße Punkte vor dem dunstigen Blau der Ferne. Sie spürte lan neben sich, suchte seine Hand. Sie brauchten nicht zu sprechen, sie wusste, dass er das Gleiche fühlte wie sie.
Tita zerstörte den Moment. »Ihr Ausländer seht das alles so romantisch verklärt.« Sie klang gereizt, aber ihr Blick streifte nicht Henrietta, sondern ihren Mann. »Afrika ist ein grausamer Kontinent.«
Es versetzte ihr einen Stich. Ausländer, hatte Tita gesagt. Das hieß, du gehörst nicht hierher, nicht zu uns. War sie eine Ausländerin? »Tita, das ist nicht fair, und das weißt du! Schon an dem Tag, an dem ich dieses Land zum ersten Mal betrat, prophezeite man mir, dass es über kurz oder lang in seinem Blut versinken würde, dass die schwarzen Horden darauf lauerten, alle umzubringen. Warum wandert ihr dann nicht aus?«
Tita schnaubte durch die Nase, machte eine hilflose Geste, die einen Bogen beschrieb, der alles umfasste, ihr Haus, den
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