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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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sehen. Aber ich konnte nicht erkennen, ob sie lächelte.
    »Klar«, antwortete ich. »Ich bin auch bei Nordlicht gezeugt worden. Aber ich dachte immer, ihr glaubt, dass bei Nordlicht die Toten mit Walrossschädeln Fußball spielen.«
    Maalia sah mich wortlos an. Ihr hatte ich gesagt, und ich hatte gemerkt, dass sie das gemerkt hatte. Warum hatte ich das gemacht? Wollte ich sie auf Abstand halten,indem ich ihr klarmachte, dass ich anders war als sie, dass ich nicht wirklich hierhin gehörte? Einen Herzschlag lang zögerte sie und ihre dichten schwarzen Wimpern flatterten. Dann lachte sie und griff meine Hand noch fester. Sie zog mich mit sich, weg von den Wohnblocks, zum Wasser hin. In Nuuk geht es immer irgendwie zum Wasser hin. Fünf Minuten später lehnten wir im Schatten eines Bootshauses an der Wand und sie schmiegte sich in ihrer dicken Winterjacke an mich.
    »Siehst du, Pakkutaq«, flüsterte sie. »Das Nordlicht!«
    Ich schob meine Kapuze zurück und schaute zum Himmel. Sie hatte recht! Von den diesigen Wolken war nichts mehr zu sehen, der Wind hatte sie davongejagt. Der Himmel schimmerte und flackerte grün und gelb, er bauschte sich wie ein seidenes Tuch, er floss über vor Farben, er atmete und lebte und tanzte und leuchtete und mein Herz wurde weit. Ich konnte nicht anders. Ich liebte dieses Licht. Es war wie eine Droge, wie Acid, wie etwas aus einer anderen Welt, ein lautloses Wunder, ein Gratisgeschenk der Götter, an die ich nicht glaubte, ein Geschenk, das niemand kaputt machen konnte.
    Ich stand atemlos da und ließ das Licht in mich einströmen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass Maalias Hand sich unter meine Jacke und meinen Pullover geschoben hatte, lautlos und unruhig wie das Licht über uns tanzten ihre Finger auf meiner Haut. Jeden Zentimeter, den sie berührten, brachten sie zum Brennen. Ihr Mund war an meinem Ohr, ihre Lippen, ihre Zunge, ich hörte Worte, die ich nicht verstand, weil das Blut in meinem Kopf rauschte. Als ihre Finger weiter nachunten wanderten und sich unter den Bund meiner Hose schoben, hämmerte mein Herz so sehr, dass es wehtat. Immer noch murmelte sie unsinnige Worte. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum lodernden Himmel. Kinder, die bei Nordlicht gezeugt werden ... Mann, noch ein paar Zentimeter weiter, ein paar Sekunden nur noch, und sie hatte mich am Haken. Das grüne, wehende Licht dort oben, das war unheimlich und verwirrend und ich konnte nur noch eines denken: Niemals würde ich von hier wegkommen, niemals. Ich stieß sie so abrupt von mir, dass sie taumelte, griff nach ihr, um sie festzuhalten, ließ sie wieder los. Ich wollte nichts von Maalia, keinen Sex, keine Liebe, kein Nordlicht, gar nichts. Ich wollte nicht für immer hierbleiben, so wie mein Vater. Ohne ein Wort zu sagen, rannte ich davon.

Nuuk, Grönland, Sommer 2020
    Um Mitternacht stand Jonathan am Fenster seines Hotels und sah auf die Stadt hinunter. Die Nacht war so hell, dass die Leuchtreklamen und die Scheinwerfer der Autos kraftlos wirkten. Er versuchte sich zu orientieren, die Schule zu entdecken, auf die er viele Jahre gegangen war, die Einkaufsstraße, das Kulturzentrum. Das Haus seiner Kindheit. Doch es war unmöglich. Die Stadt war so gewachsen, dass die Proportionen nicht mehr stimmten, und weil die Wohnblocks nicht mehr da waren, fehlte ihm jeder Anhaltspunkt.
    »Sie haben Risse bekommen, weil sich das Land bewegt hat«, war die Antwort des Portiers gewesen, als er ihn nach den verschwundenen Blocks gefragt hatte. Jonathan war sich nicht sicher gewesen, ob er diesen Satz wörtlich nehmen sollte oder ob der Mann in Metaphern sprach, wie sie die Inuit gerne gebrauchten. »Niemand hat den Klötzen nachgetrauert, als sie abgerissen wurden. Fünfhundert Leute in einem einzigen Haus, das war doch sowieso verrückt gewesen. Da sind doch viele durchgedreht.«
    »Wo sind die alle hingezogen?«, hatte Jonathan gefragt.
    »In die neue Siedlung im Osten der Stadt«, hatte der Mann mit einem gewissen Stolz gesagt. »Das sind schöne neue Häuser.«
    Jonathan drückte die Stirn an die kühle Fensterscheibe und schloss die Augen. Noch immer spürte er das Wiegendes Schiffes, das seinen Gleichgewichtssinn durcheinandergebracht hatte, so als wäre er noch an Bord der Alaska. Weil sich das Land bewegt hat. Die Worte des Portiers kreisten in seinem Kopf. Das Grönland meiner Eltern gibt es nicht mehr . Wer hatte das gesagt? Er ging zum Bett hinüber und streckte sich aus. Das

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