Ins Nordlicht blicken
Oder lag es daran, dass ich wusste, dass es bei ihm schon weit nach Mitternacht sein musste? War das vielleicht ansteckend? Als mein Handy klingelte und Aqqaluk mich fragte, ob ich auf eine Pokerrunde mit zu Ingvar gehen würde, konnte ich mich nicht mehr aufraffen. »Mit dir ist nichts mehr los, Pakku«, meinte Aqqaluk. Ich zuckte nur mit den Schultern, schaltete das Handy aus und warf es aufs Bett. Über dem Kopfende hing ein Poster von einem Wal und in der Ecke hinter dem Bett klemmte meine Angel. »Mit uns allen ist nichts mehr los, Aqqa«, sagte ich. Ich zog die Angel hervor und rollte ein paar Meter Schnur ab und wieder auf. Noch vor einem Jahr waren wir bis in den Frühling hinein zum Skilaufen gegangen, und sobald das Eisschmolz, waren Aqqaluk und ich mit dem Kajak den Fjord hochgefahren. Wir hatten das blitzschnelle Wenden geübt, um den Eisschollen auszuweichen, und uns nach den besten Angelplätzen umgeschaut. Als es wärmer wurde, hatten wir mit unseren Angeln am Ufer gesessen, heißen Tee aus Thermoskannen getrunken und vor uns hin geschwiegen. Im Dunkeln paddelten wir zurück und das Mondlicht und das Funkeln der Sterne brachten das Weiß um uns herum zum Glitzern. Aber seit einiger Zeit lief das nicht mehr. Wir waren fast nie mehr alleine unterwegs, sondern immer mit der ganzen Gang zusammen, mit Ingvar und seinen Freunden. Pokern, Computerspiele, Pornos, Alk und ab und zu ein Joint.
Ich steckte das Handy wieder ein, holte ein neues Bier, ging kurz aufs Klo und setzte mich zurück an den PC.
hallo! ich warte
sorry, war pinkeln
im stehen?
geht dich nichts an ☹
’tschuldigung
Ich musste grinsen. Hey, Spider, du bist immer noch reichlich neugierig. Beim Backgammon ist es doch egal, mit wem man es zu tun hat, oder nicht? Oder spielst du nur mit Jungen? Bist du einer von diesen Typen? Ich sah seine Hände vor mir, wie sie klackklackklack die Tasten tippten. Bestimmt hatte er weiche, weiße Finger mit sauberen Nägeln, keine, die Krabben pulten, und auch keine, die an der Supermarktkasse Geld sortierten oder Wodkaflaschenin Plastiktüten verschwinden ließen. Ich sah ihn an seinem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch sitzen, einem aus schwerem, dunklem Holz, und neben dem PC stand ein Glas Rotwein. Nur sein Gesicht sah ich nicht. Und das wollte ich auch nicht. Ich hatte kein Bedürfnis danach herauszufinden, mit wem ich jeden Abend Backgammon spielte. Die Wirklichkeit war sowieso meistens öder als alles, was man sich vorstellen konnte.
Wie unglaublich gespannt war ich gewesen, damals, als ich neben dieser schrecklichen Frau im Flugzeug nach Grönland saß. Gespannt und voller Angst und Vorfreude auf das fremde Land und den fremden Mann, bei dem ich von da an leben sollte. Als die ersten Eisberge unter mir auftauchten und dann die ganze weiße Insel, hab ich vor Aufregung einen Schluckauf gekriegt. Der Mann, der mich Stunden später am Flugplatz abholte und mit dem ich dann in ein kleineres Flugzeug umstieg, um nach Nuuk zu fliegen, kam mir stark und mächtig vor und ich traute mich kaum, ihn anzuschauen. Wir sprachen nicht viel auf diesem Flug, auch nicht, als wir in dem rot gestrichenen Holzhäuschen ankamen und er mir mein Zimmer zeigte. Ich fühlte mich unsicher, weil ich nicht wusste, wie ich ihn nennen sollte. Meine Haut unter dem Wollpullover, den mir meine Großmutter im letzten Winter gekauft hatte, juckte und kribbelte und ich schwitzte und fror gleichzeitig, war müde von der langen Reise und trotzdem hellwach. Es hatte mich bedrückt, alles zurückzulassen, was bisher mein Leben gewesen war. Aber ich hatte es gegen etwas Neues, etwas Großes eingetauscht – ich würde bei meinem Vater leben!
bist du noch da?
na klar
willst du nicht sagen, wer du bist?
tu ich doch. ich bin der bienenkönig
ach ja. und ich spider
magst du honig?
geht so
ich auch nicht
☺
was ist mit dir? kannst du gut klettern?
wie eine spinne
Ja, ich war der Bienenkönig, zumindest für Spider. Unter diesem Namen hatte ich mich eingeloggt, wahrscheinlich weil mir mein Vater mit seinem Imkerkram das Hirn verklebt hatte. Aber eigentlich war der Name gar nicht schlecht. Ein Bienenkönig, das war etwas, was es nicht gab, genau wie ich selbst, Pakku Wildhausen. Auch ich war etwas, was nicht vorgesehen war. Mit jedem kalten Morgen, den ich in dem Holzhäuschen allein am Küchentisch saß und mir mein Frühstücksbrot schmierte, mit jeder Stunde in der Schule, wo ich kein Wort verstand, mit jedem hilflosen
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