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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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»Soll ich Ihnen einen Wagen zeigen? Wir haben ganz wendige Einsitzer.«
    Jonathan hatte schon von den neuartigen Fahrzeugen gehört, die hier auf Grönland entwickelt worden waren. Soweit er wusste, waren sie extrem leicht und ganz und gar mit einem Material beschichtet, das Tageslicht in Energie umwandelte. Er hatte vom Fenster aus etliche der windschnittigen Autos gesehen und auch vor der offenen Hoteltür surrte eines mit einem Geräusch vorbei, das an Hummeln erinnerte. Aber jetzt hatte er wirklich anderes im Kopf als das Gerede über Autos.
    »Vielen Dank, ein anderes Mal«, antwortete er. »Ich will lieber zu Fuß gehen.«
    Jonathan ging zielstrebig los. Doch schon nach wenigen Minuten verlor er die Orientierung. Warum hatte er nur den Stadtplan nicht eingesteckt? Anders als auf dem Plan war ihm plötzlich kaum noch etwas vertraut. Es gab so viel Neues und so vieles, an das er keinerlei Erinnerung mehr hatte. Dieser fremde Ort, der irgendwo auf der Welt hätte sein können, verwirrte ihn. Hier gab es genau die gleichen Fast-Food-Restaurants wie in Hamburg. Ein Walmart, ein Lidl, Läden mit Modeschmuck und Markenklamotten. Sogar die Sprüche auf den Werbeplakatenkannte er; die meisten waren ja mittlerweile eh auf Englisch. Und wo kamen denn nur all die Menschen her? Kaum die Hälfte von ihnen schien Inuit zu sein. Waren das Touristen? Jonathan war schwindelig, fast so, als ob er spüren konnte, wie sich das Land unter seinen Füßen hob. Er lehnte sich an ein Schaufenster und schloss die Augen. Er hätte frühstücken sollen, anstatt nur mit einem Kaffee im Magen loszurennen.
    Das alles, die ganze Reise, war eine völlig absurde Aktion gewesen. Was taumelte er hier durch die Gegend, durch diese Stadt, die ihn nichts anging? Nie im Leben würde er den Mut aufbringen, bei seinem Vater aufzutauchen, einfach so. Hallo, hier bin ich. Gibt’s was Neues? So, als wäre nichts gewesen. Wieso nur hatte er sich nicht vorher überlegt, was er sagen sollte?
    Aus dem Café, vor dem er stand, kam der Duft von frischen Brötchen, Kaffee und Kuchen. Er stolperte hinein und ließ sich an einen der kleinen Tische am Fenster sinken.
    »Geht’s Ihnen gut, Mister? Was darf ich Ihnen bringen?« Eine freundliche Kellnerin sprach ihn auf Englisch an und Jonathan bestellte gegen jede Vernunft wieder nur einen schwarzen Kaffee. Als die Kellnerin zurückkam, stellte sie ihm eine große Schale Kekse dazu. »Help yourself«, sagte sie und lächelte. War das vielleicht so üblich in Grönland? Gab es immer eine ordentliche Portion Kekse zum Kaffee? Er konnte sich nicht erinnern.
    Er nahm sich von den Schokoladenkeksen und spülte mit Kaffee nach. Um ihn herum schwirrten Stimmen auf Englisch, Dänisch, Deutsch und Grönländisch. Immernoch war ihm schwindelig; diese verdammte Schiffsreise hatte sein Gleichgewichtsgefühl völlig durcheinandergebracht. Er stützte den Kopf in die Hände, presste die Finger auf die Lider und sehnte sich plötzlich nach der Ruhe seiner Werkstatt. Die Vorstellung, in weniger als zwei Wochen wieder zu Hause zu sein und all seine wirren Gefühle in die feste Form einer Skulptur zu meißeln, ließ ihn ruhiger werden. Nein, er hätte gar nicht erst wegfahren sollen.
    Er sah zum Fenster hinaus auf die Straße. Dort zwischen den Menschen, die es anscheinend alle ziemlich eilig hatten, glaubte er ein bekanntes Gesicht gesehen zu haben. So wie auf der Alaska meinte er für eine Sekunde, es wäre Maalia. Doch es war Shary, die dort auf einer Bank an der Bushaltestelle saß, in Outdoorjacke, mit Wanderstock und einer dieser neuen Surroundmützen auf dem Kopf. Aber die Musik, die sie damit hörte, schien ihr nicht gerade gute Laune zu machen. Sie schaute ausgesprochen missmutig drein.
    Eigentlich hätte sie doch schon am Morgen zu ihrer Wanderung aufbrechen sollen, oder nicht? Wieso war sie noch hier? Plötzlich freute sich Jonathan, sie wiederzusehen und mit ihr zu sprechen. Mitten in diesem so fremden Nuuk kam sie ihm wie eine gute Bekannte vor. Eilig holte er einen Geldschein aus der Hosentasche, legte ihn auf den Tisch und verließ das Café.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    wie war die nachtschicht?
    wie immer
    also beschissen
    ???
    woher ich das weiß? denke ich mir
    sehr schlau
    deswegen gewinne ich auch meistens
    Es stimmte. Zumindest an diesem Abend gewann Spider ziemlich oft. Wir spielten ein Spiel nach dem anderen und plänkelten ein bisschen herum. Das Bier, das ich nebenbei trank, machte mich schläfrig.

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