Ins Nordlicht blicken
hatte es lachend gesagt, aber mir war trotzdem ganz feierlich zumute gewesen. Es war an einem verregneten Sommertag gewesen und wir hatten Kekse gebacken, die die Form Grönlands hatten, mit weißem Zuckerguss und Nuuk war eine kleine rote Liebesperle, die auf der linken Seite klebte. Meine Großmutter hatte immer gewollt, dass ich nicht vergesse, wo ich geboren wurde und wo mein Vater lebte. Sie konnte ja nicht wissen, dass sie schon bald tot sein würde, Herzinfarkt, und dass ich in einem Flugzeug Richtung Arktis sitzen würde, noch bevor die Dose mit den Keksen leer war.
Ich war von Kopenhagen aus gestartet, wo mein Großonkel mich mit dem Auto hingefahren hatte. Und dann hatte ich stundenlang in einem Flugzeug gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Ich weiß noch, dass ich um nichts in der Welt den Moment verpassen wollte, in dem das fremde Land auftauchen würde. Ich stellte es mir genausovor wie die Zuckergusskekse. Neben mir hatte eine Frau gesessen, die nach Schweiß roch. Wie verrückt, dass ich das in all den Jahren nicht vergessen hatte. Die Frau war die Erste gewesen, die mir von Hans Egede erzählt hatte, dem Missionar, über den ich später in der Schule x-mal zu hören bekommen sollte. »Stell dir vor«, hatte sie gesagt, »als der Hans Egede den Eskimos das Vaterunser beibrachte, hat er einfach eine Zeile umgeändert: Unser täglich Seehund gib uns heute – weil die Eskimos doch kein Brot kannten!« Sie hatte dröhnend gelacht und ich hatte mich weggedreht, um weiter aus dem Fenster zu schauen.
»Hey, Pakku ...« Ich prostete meinem Spiegelbild mit dem Teebecher zu und versuchte mir vorzustellen, wie es älter wurde, Falten um die Mundwinkel bekam, graue Haare, Tränensäcke, so wie mein Vater. Irgendwann einmal würde aus Pakku Herr Wildhausen geworden sein und das würde ich sein. Unvorstellbar.
Im Nebenzimmer hörte ich den Fernseher dröhnen, mein Vater guckte Fußball, wahrscheinlich dänische Liga. Ich überlegte, mich zu ihm zu setzen, aber ohne dass ich einen wirklichen Entschluss gefasst hätte, flimmerte auch schon das Backgammonbrett vor mir auf. Ich hatte es geahnt: Spider war online. Ich freute mich richtig, obwohl mir klar war, wie peinlich das war. Da saß ich in meinem Zimmer in Nuuk, und anstatt mit meinen Freunden unterwegs zu sein oder mit dem Mädchen rumzumachen, das scharf auf mich war, traf ich mich mit einem Typen, den ich nicht kannte, um ein Spiel zu spielen, das ungefähr so aufregend war wie Zähneputzen. Ichverkroch mich vor dem Leben, weil ich nicht wusste, in welche Richtung es gehen sollte. Wieder sah ich das Bild des Jungen dort in der Fensterscheibe, leicht vorgebeugt, als erwartete er etwas, das ihm die Entscheidung abnahm.
Nuuk, Grönland, Sommer 2020
Jonathan schlief tief und traumlos bis in den Mittag hinein, und als er aufwachte, fühlte er sich wie befreit. Es war gut, nicht mehr auf dem Schiff zu sein. Er hatte endlich wieder eine Nacht durchgeschlafen, ohne angsterfüllt hochzuschrecken, und jetzt war er begierig darauf, das Hotelzimmer zu verlassen. Obwohl es schon fast zwölf war, hatte er keinen Hunger. Er wollte duschen, sich rasieren und dann hinaus in die Stadt.
Als Erstes musste er zum Haus seines Vaters gehen. Denn nichts war schlimmer als die Vorstellung, ihm plötzlich irgendwo auf der Straße gegenüberzustehen. Nuuk war eine Kleinstadt, keine zwanzigtausend Einwohner, und da konnte er ihm jederzeit über den Weg laufen.
Der Portier hatte ihm am Abend einen Stadtplan mitgegeben, den er jetzt auf dem Bett ausbreitete. Er fand sich besser zurecht, als er gedacht hatte. Da waren das Kulturzentrum, der Markt, die Kirchen und die Schule mit dem Fußballplatz, der stets monatelang unter Schnee begraben gewesen war. Aber es gab auch ein Netz um das alte Nuuk herum, aus neuen Straßen, die nach den Tieren der Arktis benannt worden waren. Vielleicht hatte man ihnen ein Denkmal setzen wollen, bevor es sie nur noch im Zoo geben würde. Es dauerte eine Weile, bis er den Rasmussenvej entdeckte, der nicht mehr so wie früher am Rande des Ortes lag.
Jonathan nahm seine Jacke und ging in die Hotelhalle. Der Portier wollte ihm den Schlüssel für eins der stadteigenen Daylightmobile geben. »Das ist eine tolle Sache«, meinte er. »Im Sommer brauchen Sie nichts dafür zu bezahlen. Dafür wird’s im Winter umso teurer. Aber dann steigen viele auf Snowmobile oder Langlaufskier um. Dann gibt’s genug Schnee.« Der Portier klimperte wieder mit dem Schlüssel.
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