Ins Nordlicht blicken
Versuch meines betrunkenen Vaters, so etwas wie ein Vater zu sein, spürte ich das mehr. Es gab niemanden, zu dem ich gehörte, niemanden, der so war wie ich. Eigentlich hätte es mich nicht geben sollen.
Ich kannte dieses Gefühl. Es war immer schon ein Teil von mir gewesen. Manchmal merkte ich es nicht, dann lag es zusammengerollt wie ein kleines Tier in meinem Innern und schlief. Aber es war blitzschnell wach, wennich mitbekam, wie die Leute auf dem Markt in Dannenberg mich anschauten, so verdammt freundlich und ganz überrascht, dass ich so gut deutsch sprechen konnte. Oder wenn die Kinder Eskimo zu mir sagten oder Indianer, eigentlich nur im Spaß. Und es hob auch dann verschreckt den Kopf, wenn der Blick meiner Großmutter diesen liebevollen, besorgten Ausdruck annahm, in dem ein Staunen darüber lag, dass ihr der Zufall so einen Enkelsohn beschert hatte.
Aqqaluk hatte einen PC mit Kamera und beim Chatten schickte er fröhlich sein Gesicht in alle Welt, egal, an wen. Ich fand’s reichlich naiv, so was macht man einfach nicht, aber ich beneidete ihn trotzdem um seine Unbekümmertheit.
hast du keine angst?
wovor? dass ich schon wieder verliere?
dass die biene im netz hängen bleibt
ich kann auf mich aufpassen
wirklich?
wirklich
gut. dann pass auf, dass ich dich nicht gleich rauswerfe
fuck!
Ich hatte schon wieder verloren, weil ich einen ungeschickten Zug gemacht hatte. Meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Sie ließen sich nicht durch zwei elektronische Würfel im Zaum halten.
Nuuk, Grönland, Sommer 2020
»Hey, Shary!« Gerade als der Bus in die Haltespur einbog, hatte Jonathan die andere Straßenseite erreicht. Shary hörte ihn nicht, weil der Sound aus ihrer Mütze alle Geräusche verschluckte. Erst als er direkt vor ihr stand, nahm sie ihn zur Kenntnis. Während sie die Surroundmütze absetzte und die Lautsprecher ausstellte, wanderte ihr Blick zwischen dem Bus und Jonathan hin und her. Sie zögerte kurz, dann ließ sie den Bus abfahren, ohne einzusteigen.
Sie hielt ihm die Mütze hin. »Willst du mal hören?«, fragte sie. » Don’t you leave me alone ... Ein wahnsinnig guter Song. Passt wirklich wunderbar.« Sie klang bitter.
Jonathan schüttelte den Kopf. Er setzte sich zu ihr auf die schmale Bank, neben ihren Rucksack. »Was machst du hier?«, fragte er. »Ich dachte, ihr seid schon los.«
Statt einer Antwort klopfte sie gegen den Metallstock, den sie auf den Knien liegen hatte. Jetzt erkannte Jonathan, dass es eine Krücke war und kein Wanderstock. Er sah sie fragend an.
»Ich bin ausgerutscht«, sagte sie. »In der Dusche. Das musst du dir mal vorstellen.«
»Nicht wirklich, oder?« Jonathan lachte. Aber ein Blick von Shary brachte ihn zum Schweigen.
»Ich komme gerade vom Arzt. Die Wanderung kann ich vergessen, ich kann ja nur noch humpeln. Meine Gruppezieht genau in diesem Moment ohne mich los und die Alaska ist auch seit einer Stunde weg.«
»Und jetzt?«
»Jetzt wollte ich gerade zum Bed & Breakfast. Beim Arzt haben sie mir eins empfohlen.« Sie zeigte ihm den Zettel, den sie in der Hand hielt.
Jonathan warf einen Blick auf die Adresse und nickte; er erinnerte sich an die Straße. Sie lag in der Nähe des Friedhofs.
»Kennst du dich hier aus?« Shary musterte ihn.
Jonathan spürte ihre Neugier geradezu körperlich und er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Verdammt noch mal, wieso geriet er bei jeder Kleinigkeit gleich in Panik? Dieses Mädchen hier, das hatte nichts, absolut nichts mit seiner Vergangenheit zu tun.
»Ich hab mir den Stadtplan angeguckt«, antwortete er. »Es kann nicht allzu weit von hier sein. In Nuuk liegt alles ziemlich dicht beieinander, schätze ich.« Er schnipste gegen ihre Krücke und zwang sich zu einer Lockerheit, die ihm wie Schwerstarbeit vorkam. »Wenn du willst, bring ich dich hin.«
»Klar. Gerne.« Shary warf ihre langen schweren Haare mit einem Schwung nach hinten. »Ich bin froh über jede Minute, die ich hier nicht alleine abhängen muss. Meinst du, wir könnten zu Fuß gehen?«
»Wenn du das schaffst ...« Jonathan stand auf, nahm ihren Rucksack und reichte ihr die Hand. Shary stützte sich auf ihre Krücke und gemeinsam gingen sie die Fußgängerzone hinunter, bis sie unbelebter wurde und es kaum noch Läden gab. Der Weg ging über einige Holzstegeund Treppen bergauf und Shary hakte sich bei Jonathan ein. Sie sprachen kaum miteinander. Vielleicht ahnte Shary, dass Jonathan ihren Fragen ausweichen würde. Sie erzählte ihm nur
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