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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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kurz von der Diagnose des Arztes, der ihr geraten hatte, ihr verstauchtes Sprunggelenk ruhig ein wenig zu belasten.
    »Toller Urlaub«, grummelte sie. »Jetzt kann ich durch dieses langweilige Nest humpeln, bis die Alaska wieder da ist.«
    Jonathan hörte ihr kaum zu. Hier, außerhalb des Zentrums, hatte sich längst nicht so viel verändert. Die gleichen bunten Holzhäuschen säumten die Straße, graue Felssteine lagen wie verloren am Straßenrand, eine wohltuende Stille umgab sie. Ohne sich dessen bewusst zu sein, ging er an der Straße vorbei, die zu Sharys Pension führte, hinauf zum Friedhof, von wo aus man einen weiten Blick über das Meer hatte.
    »Ich befürchte, wir haben uns verlaufen«, sagte Shary ein wenig atemlos. »Hier wollte der Arzt mich hoffentlich nicht unterbringen, oder?« Sie lachte und ließ sich auf eine Bank sinken, die am Rande der Gräberreihen inmitten von Heidekraut stand. »Obwohl die Aussicht nicht schlecht ist.« Sie deutete mit dem Kinn über den Fjord zu den Gipfeln des Sermitsiaq.
    Jonathan saß neben ihr und schaute hinunter auf das glitzernde Wasser. Wieder spürte er Sharys fragenden Blick. Klar, sie wollte wissen, warum er die Alaska verlassen hatte. Doch sicherlich nicht, um seine Zeit in Nuuk auf dem Friedhof zu verbringen.
    »Ja, nicht schlecht, die Aussicht«, sagte er vage. »Darfich mal?« Er nahm Sharys Surroundmütze, die zwischen ihnen auf der Bank lag, und setzte sie sich auf. Durch eine leichte Berührung der Stirnseite aktivierte er die Lautsprecher und in derselben Sekunde wurde er von einem überwältigenden Klang erfüllt. Von allen Seiten drang die Musik auf ihn ein. Es war, als würde sie direkt in seinem Kopf entstehen. Don’t you leave me alone ... Ein sentimentaler, reichlich bombastischer Song. Geigen, die hemmungslos in Moll schwelgten und schluchzten, absolut nicht seine Musik. Sie überschwemmte ihn bis in die letzte Zelle seines Körpers. Wie absurd, hier auf dem Friedhof von Nuuk zu hocken und sich mit Musik zuzudröhnen, die er nicht mochte. Musik, die süß und klebrig war wie Honig.
    Abrupt stand er auf und nahm die Mütze ab.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    Ingvars Vater Gunnar und mein Vater waren früher mal so etwas wie Geschäftspartner gewesen, ein paar Jahre nachdem ich nach Grönland gekommen war. Das war die Idee mit dem Reisebüro gewesen. Aber mein Vater hatte damals die Sache wohl im ewigen Eis versenkt, weil seine tollen Kontakte in Deutschland nichts als große Sprüche gewesen waren. Ingvars Vater hatte anscheinend eine Menge Geld verloren und war immer noch sauer auf ihn. Die Geschichte hätte mir eigentlich egal sein können, aber es nagte immer noch in mir, dass Ingvars Vater deshalb sein Versprechen nicht gehalten hatte. Das Versprechen, mich auf einen Hubschrauberflug zum Inlandeis mitzunehmen.
    Aqqaluk und ich saßen bei Ingvar auf dem Sofa und durften uns die Fotos anschauen, die Ingvar mit dem Handy gemacht hatte, Fotos von seinem letzten Hubschrauberflug Richtung Norden.
    »Nicht schlecht, oder?«, sagte er nun schon zum dritten Mal und hielt mir eins der Gletscherbilder unter die Nase.
    »Tja«, sagte Aqqaluk. »Ich find’s eigentlich schöner, mit dem Schlitten rauszufahren.«
    »Dann mach das doch.« Ingvar lächelte überheblich, schob die Unterlippe vor und pustete sich seine dünne blonde Haarsträhne aus der Stirn.
    »Mach ich auch, im Winter mal wieder.« Aqqaluk schien Ingvars dummes Getue nicht im Geringsten zu stören. Er hatte schon öfter mit einem seiner zahlreichen Verwandten von Ilulissat aus eine Tour mit dem Hundeschlitten gemacht. In dem Winter, als wir beide dreizehn wurden, hatte ich mitgedurft. Wir waren mit einem Frachtschiff mitgefahren, Aqqaluk, sein Onkel Ajako und ich, entlang der weißen Küste Richtung Norden, vorbei an Eisskulpturen, die uns auf dem Meer entgegenkamen und von denen einige so schön und seltsam waren, dass ich mir wünschte, sie würden niemals schmelzen, auch in hunderttausend Jahren nicht. Eine unheimliche Fahrt war das, auf der es immer kälter und dunkler wurde und das Schiff sich ächzend seinen Weg durch die Eisschollen brechen musste. Es war nicht sicher, ob es überhaupt bis Ilulissat durchkommen würde. Als wir jenseits des Polarkreises waren, nahm die Nacht überhaupt kein Ende mehr und ließ tagsüber nur ein geheimnisvolles Zwielicht zu, das das Eis zum Leuchten brachte. Aber unheimlicher noch war Ilulissat, in dem das Heulen der Schlittenhunde nur selten

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