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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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älteres dänisches Ehepaar enthusiastisch über ihren Kaffee hinweg begrüßte. Sie waren froh, auf Touristen zu treffen, um sich die Kosten für die Jeeptour zum Inlandeis teilen zu können. Jonathan war weit davon entfernt, sich wie ein Tourist zu fühlen. Aber er konnte sich vorstellen, wie sehr sich Shary über so einen Ausflug freuen würde, und so buchten sie für den Vormittag eine Eistour.
    Jonathan hatte recht gehabt: Für Shary war die Fahrt, zu der sie nach dem Frühstück aufbrachen, der Höhepunkt des Urlaubs und eine Entschädigung für ihre verpatzte Wanderung. In einem klapperigen Jeep bretterten sie über eine feste Schneepiste den Fjord entlang, auf dem sich die Eisberge lautlos Richtung Meer schoben. Der Fahrer ließ den Wagen hin- und herschlingern, und Shary, die sich hinten neben den Dänen schmal machte, juchzte wie in der Achterbahn.
    In das Rattern des Wagens mischte sich ein immer deutlicheres Grollen und Krachen, das so ungewohnt und seltsam klang, dass Jonathan den Fahrer irritiert anschaute. »Was ist das?«, fragte er, »ist das ein Gewitter?«
    »Das ist das Eis«, antwortete der Fahrer, ein junger Inuit, der kaum älter als ein Teenager aussah. »Es bricht auseinander. Dort vorne könnt ihr es sehen.«
    Kurz darauf hielt er an und sie standen unvermittelt vor der Abbruchkante des Gletschers. Es war ein Anblick, vor dem selbst der Fahrer verstummte, der ihnen geradeerzählt hatte, dass Grönlands Gletscher von Jahr zu Jahr schneller schrumpften. Eine über fünfzig Meter hohe, zerklüftete weiße Wand ragte aus dem Wasser, das vor lauter Eisschollen fast nicht zu sehen war. Wie eine dicke Schicht Papierfetzen bedeckten sie den Fjord. Der Gletscher bebte, als würde er von einer ungeheuerlichen Gewalt geschoben werden, deren Druck er unter Qualen nachgab. In das Krachen der zersplitternden Kluft mischte sich ein Quietschen und Klagen wie von tausend Tonnen Kreide, die über eine Tafel gezogen wurden. Haushohe, grünlich schimmernde Brocken stürzten sich in das Meer aus Eisschollen, als könnten sie ihren unausweichlichen Untergang nicht erwarten. Donnernd fielen sie hinab und wühlten das Wasser auf.
    Ehrfürchtig wie in einer Kathedrale stand die kleine Gruppe diesem Schauspiel gegenüber. Sie waren unwillkürlich zusammengerückt. Als der Fahrer ihnen schließlich das Zeichen zum Weiterfahren gab, überboten sich Shary und das dänische Ehepaar mit ihren Begeisterungsrufen.
    »Was für ein Wahnsinn!« Sharys Augen leuchteten und sie hielt sich an Jonathans Arm fest, als befürchtete sie, von der Gewalt des brechenden Eises mitgerissen zu werden.
    Jonathan fiel es schwer, sich von dem Anblick des gewaltigen Gletschers zu lösen, der jeden Gedanken und jedes Gefühl klein und nichtig werden ließ. Er hätte hier ewig stehen können. Erst als sie wieder im Jeep saßen, registrierte er, dass er in der letzten Stunde kein einziges Mal an die E-Mail von Gunnar Kleist gedacht hatte.
    Sie fuhren auf dem harten, trockenen Schnee entlang, bis sie bei einem Igludorf anhielten und ausstiegen. Arm in Arm schlitterten Jonathan und Shary hinter den Dänen über die Schneedecke, vorbei an Schlitten und Schneemobilen, die neben den Iglus aufgereiht waren. Shary holte ihren Pocketpower heraus, den sie vor lauter Staunen angesichts des berstenden Gletschers völlig vergessen hatte. Sie fotografierte das bis zum Horizont reichende Weiß, die Schlittenhunde mit ihren bernsteinfarbenen Augen, die perfekt runden Iglus, die man für die Touristen errichtet hatte, und ließ sich von Jonathan knipsen, wie sie grinsend unter einer Bärenfellmütze hervorlugte, die sie für viel zu viele Kronen gekauft hatte. Jonathan musste lachen. Sie sah aus wie der Inbegriff des schönen, fröhlichen Inuitmädchens, das nahezu in jedem grönländischen Werbeprospekt abgedruckt war. Die unausgesprochene Missstimmung, die seit der vorletzten Nacht zwischen ihnen geherrscht hatte, war verflogen.
    Erst als der Schlittenführer ihnen zeigte, wie sie hintereinander auf dem Schlitten Platz nehmen sollten, steckte Shary ihren Apparat in die Tasche. Der Fahrer stellte sich hinter sie, ein leiser Ruf für die Hunde ertönte und mit einem Ruck fuhren sie an. Sekunden später sausten sie los, warm verpackt in Robbenfellkleidung, die Sonnenbrillen auf die Nasen gedrückt. Wie ein Boot schlingerte der Schlitten über die Ebene. Das Trommeln der Hundepfoten auf dem harten Schnee und die gellenden Rufe des Schlittenführers erfüllten die

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