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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Nacken.

Qaanaaq, Nordwestküste Grönlands, Sommer 2020
    Jonathan hatte sich ohne nachzudenken auf den Flug nach Qaanaaq eingelassen. Aber er hatte durchaus gewusst, dass dieser Ort kurz vorm Nordpol in der grönländischen Geschichte eine tragische Rolle gespielt hatte. Qaanaaq stand wie kein anderer Ort für die Ohnmacht der Grönländer gegenüber der Großmacht USA. Bei der Zwangsumsiedlung in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren die Inuit wie die Schachfiguren hin und her geschoben worden. Hals über Kopf hatten sie ihre Häuser verlassen müssen, um dem Militärflughafen Platz zu machen. Und nach der Atomkatastrophe von 1968 wurden die plutoniumverseuchten Grönländer, die ohne Schutzanzüge den Atommüll für die Amerikaner weggeräumt hatten, lediglich als ärgerlicher Kollateralschaden angesehen. Das aus dem gefrorenen Boden gestampfte neue Qaanaaq war stets der traurigste Flecken der Insel gewesen. Der Ort mit der höchsten Rate an Mord, Selbstmord und sexuellem Missbrauch.
    Die Erkenntnis, dass seine Mutter ein Teil dieses Kollateralschadens gewesen sein musste, traf Jonathan wie ein Schlag. Sie war am ersten Januar 1968 geboren worden, also wenige Wochen bevor die Atombomben ins Eis stürzten. Deshalb also hatte sein Vater gesagt, dass ihr Leben von Anfang an verkorkst gewesen war. Er schaute hinunterauf das unbewohnte Land. Würde er auf dieser Reise, statt seinem Vater zu begegnen, das Grab seiner Mutter finden? Nach ihrem Tod hatten ihre Eltern sie in die Heimat zurückbringen lassen, um sie dort zu begraben. Auch seine Großeltern waren schon tot gewesen, bevor er zum ersten Mal nach Grönland gekommen war.
    Jonathan spürte plötzlich schmerzhaft, wie wenig er in seinem Leben an seine Mutter gedacht hatte. Evie Kristiansen, ein Name, der ihm völlig fremd war, so selten hatte er ihn auch nur in Gedanken benutzt.
    Sie flogen jetzt über das Eis, das früher einmal das ewige genannt wurde und dessen Abschmelzen von den Klimaforschern alle drei Jahre neu berechnet wurde. Der Pilot ließ ihnen zuliebe das Flugzeug sinken und Shary schrie freudig auf. »Ein Hundeschlitten! Sieh nur, Jonathan! Dreizehn Hunde sind das, die den Schlitten ziehen!«
    Nun sah auch Jonathan das fächerförmige Gespann, das sich auf dem Weiß abzeichnete. Vielleicht waren die Männer auf der Jagd nach Robben. Oder war das nur eine Schlittenfahrt für Touristen? Er hatte keine Ahnung, ob hier im äußersten Norden die Robbenjagd immer noch zum Leben gehörte.
    Es dauerte nicht lange, dann wurde das Eisschild vom Küstenstreifen abgelöst. »Der Flugplatz.« Der Pilot wies auf den riesigen Sendemast hin. Um ihnen einen Gefallen zu tun, zog er das Flugzeug hinaus über die Bucht von Qaanaaq und ließ es über die weißbläulichen Eisberge gleiten.
    Als die kleine Maschine holpernd auf der Landebahnaufgesetzt hatte und sie ausgestiegen waren, sog Jonathan die Polarluft ein und zog sich die Jacke an. Im Vergleich zu Nanortalik war es eisig kalt.
    »Es liegt kein Schnee«, sagte Shary enttäuscht und sah hinaus auf die mit Moos und unzähligen rotblauen Blüten befleckte Felsenlandschaft.
    »Nicht hier an der Küste«, erklärte ihr der Pilot. »Aber ihr könnt eine Arctic-Tour buchen und zum Inlandeis fahren.«
    Es war nach Mitternacht und die Sonne verbreitete ein rötliches, warmes Licht, sodass die schnurgeraden Straßen von Qaanaaq, durch die sie mit dem Flughafentaxi fuhren, nicht ganz so öde wirkten. Die Fahrerin setzte sie am einzigen Hotel ab, das es in Qaanaaq gab. Gunnar Kleists Sekretärin hatte ihnen dort vorsorglich ein Zimmer reserviert.
    Wenig später lag Jonathan müde und trotzdem aufgedreht neben Shary auf dem Bett, von wo er den orangefarbenen Himmel sehen konnte. Shary hatte sich mit deutlichem Abstand zu ihm auf ihre Seite des Doppelbettes gelegt, sich von ihm weggedreht und war schnell eingeschlafen. Er beneidete sie darum. Voller Unruhe nahm er sein Handy, um nachzusehen, ob eine Nachricht von Gunnar Kleist gekommen war. Wie lange würde es dauern, bis Gunnar den Artikel über den Tod seines Vaters schickte? Vielleicht hatte er so viel zu tun, dass er schon nicht mehr an sein Versprechen dachte, ihn zu informieren.
    Noch immer waren draußen Stimmen zu hören, überdrehtes Lachen und Musik aus einem Autoradio. Jonathanschloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Vergeblich versuchte er abzuschalten. Als er hörte, wie in der Pension das Leben begann, ging er in den Frühstücksraum, wo ihn ein

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