Insel der Freibeuter
die Jacare emporhob und über die Bucht bis zur gegenüberliegenden Kü-
ste schleuderte. Auf seinem Weg stieß der Küsten-
segler mit dem Bug einer riesigen Galeone zusam-
men und zerschellte. Ohne daß er wußte, wie ihm
geschah, fand Don Hernando sich rudernd in einer
brüllenden, aufgewühlten See wieder, während um
ihn herum ein Dutzend Schiffe unter dem Schrek-
kensgeheul ihrer fassungslosen Besatzungen kenter-te.
Das Jüngste Gericht war vor der Zeit gekommen.
Um 11 Uhr 50 am Morgen des 7. Juli 1692 erschüt-
terten drei mächtige Erdstöße ganz Jamaika, doch
am schlimmsten traf es Port-Royal. Die Stadt ver-
wandelte sich in einen riesigen Friedhof, in dem die alten Leichen aus den Gräbern geschleudert wurden, um in der Sonne zu trocknen, während die eben
noch Lebendigen in ihren luxuriösen Betten begra-
ben wurden.
Draußen in der Bucht klammerten sich viele Men-
schen an ein Stück Holz, um sich über Wasser zu
halten, doch die meisten gingen mit ihren Schiffen unter oder wurden von riesigen Wellen gegen die
Klippen geschleudert. Die riesige Botafumeiro zerschellte in tausend Stücke, als sie gegen einen Felsen prallte, der über eine halbe Meile landeinwärts lag.
Der Ex-Gesandte der Casa de Contratación von Se-
villa kämpfte verzweifelt, um sich über Wasser zu halten, doch eine dicke Planke schoß wie ein schwerer Pfeil vom Bogen Poseidons auf ihn zu, zer-
schmetterte ihm den Schädel und verspritzte sein
Hirn in alle Himmelsrichtungen.
Als auf Jamaika endlich wieder Friede einkehrte,
war das glanzvolle, sündige Port-Royal nur noch
eine bittere Erinnerung.
Die Katastrophe der verfluchten Städte Sodom und
Gomorrha hatte sich Tausende von Jahren später
wiederholt.
Am Nachmittag gelang es Miguel und Celeste He-
redia, sich mühsam einen Weg zwischen Erdspalten, riesigen Felsen und entwurzelten Bäumen zum Ufer
der Bucht zu bahnen, auf deren Landzunge vor we-
nigen Stunden noch Port-Royal gestanden hatte.
Angesichts des schrecklichen Schauspiels sank das schockierte Mädchen klagend auf die Knie.
Auf dem wieder ruhigen Wasser der Bucht
schwammen Wrackreste und verstümmelte Leichen,
und es wimmelte von Haien, die der Geruch des
Bluts aus dem offenen Meer hierhergelockt hatte.
Sie schienen ihres üppigen Festmahls schon über-
drüssig zu sein und kein Interesse mehr daran zu
haben, die zahllosen menschlichen Überreste zu ver-tilgen, die das schreckliche Erdbeben hinterlassen hatte.
An die fröhliche schöne Stadt erinnerten nur noch Splitter, rauchende Scheiterhaufen und verstreute Steinblöcke. Wie die Haie hatten sich Aasgeier aus den entlegensten Winkeln der Insel zum Bankett
versammelt.
Die wenigen Überlebenden, von denen einige so
übel zugerichtet waren, daß sie sich nur noch einen möglichst schnellen Tod wünschten, waren auch
nach Stunden noch wie von Sinnen. Die meisten
herbeigeeilten Helfer, darunter auch die Heredias, mühten sich nach Kräften, jeden aus seinem Grab zu holen, der unter dem Schutt noch einen Laut von
sich gab.
Weil die meisten Häuser der Hauptstraße von der
riesigen Erdspalte verschluckt worden waren und
weil die meisten Besatzungsmitglieder der Schiffe in der Bucht in jenem fatalen Augenblick schliefen,
blieb niemand am Leben, der aus eigener Erfahrung hätte erzählen können, was genau geschehen war.
Eine unglückliche Schwarze, die vom Erdbeben in
dem Augenblick überrascht worden war, als sie Wä-
sche über einige Felsen zum Trocknen auslegte und die man als die wichtigste Augenzeugin der schrecklichen Tragödie ansehen konnte, war von der Größe der Katastrophe so bestürzt, daß sie von diesem Tag an kein einziges Wort mehr herausbrachte.
Nur mittels der eindrucksvollen und makabren
Skizzen, die man Jahre später anfertigte, konnten sich die Historiker eine ungefähre Vorstellung davon machen, was in Port-Royal an jenem heißen Mittag
im Juli 1692 geschehen war, doch unglücklicherwei-se ging der größte Teil dieser Zeugnisse während
eines heftigen Wirbelsturms Ende des letzten Jahrhunderts verloren.
Dennoch weigerte sich Celeste Heredia Matamo-
ros, die vor dem Grab so vieler Menschen kniete, die Tatsache zu akzeptieren, daß ihr eigener Bruder
ebenfalls ein Opfer der entfesselten Naturgewalten geworden war. Zwei Tage und zwei Nächte lang
suchten sie und ihr Vater nach ihm, bis sie schließ-
lich nur noch in den Sand des Strands sinken und
sich der bitteren und unabänderlichen Realität
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