Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
davon gesprochen, dass er seine Eltern überreden wollte, im nächsten Jahr Urlaub auf Kreta zu machen – im nächsten Jahr.
Bis dahin würde er sie längst vergessen haben. Leándra kannte das schon. Bei ihrem vorigen Umzug war sie zwar nicht verliebt gewesen, aber auch Freundschaften hielten sich meistens nicht sehr lange, wenn man voneinander getrennt war.
Die halbe Nacht versuchte Leándra sich einzureden, wie gut es war, dass aus der Liebesgeschichte zwischen ihnen bis jetzt kaum etwas geworden war. Aber es nutzte nichts. Sie musste sich immer wieder auf die Lippen beißen, um nicht zu weinen – bis es irgendwann zu spät war und die Tränen dennoch warm und leise über ihr Gesicht liefen.
Leándra wollte nicht weinen! Sie musste endlich an etwas anderes denken! Um sich abzulenken, richtete sie sich halb auf, stützte den Kopf in ihre Hand und sah zu Elenis Schlafhöhle hinüber. Der Atem ihrer Schwester klang so gleichmäßig, als würde sie schlafen. Aber das schwache Licht des Mondes drang nicht in die gemauerte Felsnische vor und es war zu dunkel darin, um etwas zu erkennen.
Eleni hatte heute zum ersten Mal ausgesprochen, was seit ein paar Monaten im Raum stand. Dass sie wegen ihr umzogen, weil ihre sonderbare Gabe so auffällig geworden warund weil die Kinder anfingen, sie zu verfolgen. Leándra hatte es selbst erlebt.
In Berlin waren sie beide auf dasselbe Gymnasium gegangen, und bevor das auf der Klassenfahrt geschehen war, hatte Leándra ihre kleine Schwester fast immer in einer munteren Gruppe von Dreizehnjährigen gesehen.
Doch in den letzten Monaten war Eleni auf dem Schulhof allein gewesen und Leándra hatte so manches Mal beobachtet, wie ihre Freunde ihr auswichen. Irgendwann, als Leándra und Eleni am Frühlingsanfang zusammen in der Eisdiele saßen, war dort gleich eine ganze Horde von Elenis Mitschülerinnen aufgetaucht. Sie alle hatten sich abgewandt, als sie Eleni entdeckten, hatten tuschelnd die Köpfe zusammengesteckt und ihr finstere Blicke zugeworfen.
Leándra hatte Mitleid mit ihrer jüngeren Schwester. Eleni hatte nie jemandem etwas zuleide getan, selbst sie beide stritten sich erstaunlich wenig, wenn man es mit anderen Schwestern verglich.
In der Eisdiele hatte Eleni sich nichts anmerken lassen, aber am Abend hatte Leándra gehört, wie sie leise in ihr Kopfkissen geweint hatte.
Für Eleni war es besser, dass sie hierhergekommen waren. Hier hatten sie die Chance, neu zu beginnen. Außerdem schien Agia Vasiliki ein nettes Fischerdorf zu sein. Sie wohnten jetzt dort, wo andere Urlaub machten, konnten jeden Tag im Meer baden, und wenn es tatsächlich ein paar Jugendliche im Dorf gab, würden sie bestimmt auch Freunde finden.
Irgendwann, nachdem sich Leándras Gedanken beruhigt hatten, schlief sie wohl doch noch ein – zumindest war das ihr erster Gedanke, als sie aus dem Schlaf aufschreckte.
Jemand hockte in ihrer Schlafhöhle!
Leándra zog die Decke enger an sich und blickte in das dunkle Gesicht ihrer Schwester. Elenis Augen waren fast schwarz in der Nacht. Am Tag waren ihre dichten Wimpern und die dunkelbraunen Augen so hübsch, dass Leándra sich manchmal kaum davon losreißen konnte. Aber jetzt lag ein dämonischer Schatten über Elenis Augen. Ihre dunklen Locken standen in einer zerzausten Wolke um ihren Kopf und fielen lang über ihre Schultern. Ihr Blick glitt durch Leándra hindurch und kam erst in weiter Ferne zur Ruhe. Eleni sah aus, als würde sie in eine Welt blicken, die kein normaler Mensch wahrnehmen konnte.
Leándra fröstelte. Ihre Schwester schlief, und das, was hier auf dem Bett saß, war nur ihr Schatten, der dunkle Teil von ihr, der mehr zu wissen schien, als jeder andere Mensch.
»Was ist los?«, flüsterte Leándra. Für einen Moment hoffte sie, dass Eleni nur ein paar sonderbare Sätze von sich geben würde und dann wieder in ihrem Bett verschwand.
Aber ihre kleine Schwester stand mit unbewegter Miene auf und ging zur Tür.
Leándra sprang aus dem Bett, ihr Herzklopfen überschlug sich, während sie mit den Füßen nach ihren Hausschuhen tastete. Aber sie fand nichts und Eleni war bereits am Fuß der Treppe angekommen. Ihre Schritte tapsten unten im Flur auf den Fliesen.
»So ein Mist!« Leándra rannte barfuß aus dem Zimmer, hastete die Treppe hinab. Niemals durfte sie ihre Schwester allein lassen, für keinen Moment. Vor allem nicht, wenn sie hilflos durch die Nacht wandelte. Sie holte Eleni in der Küche ein, kurz vor der Tür, die nach
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