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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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woher Sie Ihr Wissen haben, aber ich muss dringend mit Ihnen darüber reden«, beschwor er sie.
    Plötzlich konnte ich das Gesicht der Frau klar und deutlich erkennen. Mira. Das konnte doch nicht sein! Aber sie war es tatsächlich, jünger und strahlender, als ich sie kennengelernt hatte, aber eindeutig Mira.
    Ich sah, wie sich mein Vater in nächster Zeit täglich mit ihr zu heimlichen Abendessen traf. In der Stadt durften sie sich natürlich nicht zusammen sehen lassen, das wäre meiner Mutter sofort zugetragen worden, also wählten sie ein abgelegenes Restaurant in der Nähe des Fährhafens. Vater erzählte Mira alles: Dass ich bis zu meinem dritten Lebensjahr blind gewesen war, aber ständig über Dinge geredet hatte, die ich gesehen haben wollte; dass ich mein Sehvermögen von einem Moment zum anderen wiedererlangt hatte; dass ich teilweise mit meinen verstorbenen Vorfahren in der Vergangenheit zu leben schien und dass ich seit jeher unsichtbare Freunde gehabt hatte, die mir jetzt allerdings gefährlich zu werden schienen.
    »Was sagt denn Ihre Frau zu alldem?«, erkundigte sich Mira eines Tages schüchtern.
    »Sie nimmt das alles nicht ernst. Sagt, ich wäre verrückt, mir solche Sorgen zu machen. Ich habe alles versucht, um sie zur Vernunft zu bringen, aber sie will nicht hören …« Seine Worte verklangen in einem Seufzen.
    Als daraufhin ein verstohlenes Lächeln über Miras Gesicht huschte, wusste ich, dass er genau das gesagt hatte, was sie hören wollte.
    Und dann sah ich Bilder von weiteren Treffen der beiden, in kleinen Restaurants und schließlich in abgelegenen Hotels. Sie hatten also eine Affäre gehabt. Mir wurde übel. Und die ganze Zeit lang war sie so nett zu mir gewesen, so hilfsbereit! Nur über diese Geschichte hatte sie kein einziges Wort verloren.
    Dann sah ich Julie Suttons Eltern, die ihre Tochter bei uns absetzten, damit sie den Nachmittag mit mir verbringen konnte. Mein Vater kam in das Zimmer im zweiten Stock, wo wir ein Puppenservice zwischen uns aufgebaut hatten. Ich schenkte aus einer Kanne imaginären Tee ein und schwatzte dabei mit Julie und den Teddybären, die ich als weitere Gäste auf den Boden gesetzt hatte.
    »Na, spielt ihr schön, ihr zwei?« Mein Vater lächelte mich an, sichtlich erleichtert, mich endlich mal bei einem richtigen Kinderspiel mit einer lebenden Freundin anzutreffen, und wandte sich dann wieder ab, um die Treppe hinunterzusteigen.
    Und dann hörte ich das Kreischen – schrille Entsetzensschreie – und wusste, dass mein Vater sie ebenfalls gehört hatte. Er stürzte in den Raum zurück und fand mich mit blutig gekratztem Gesicht im Kampf mit einem für ihn unsichtbaren Gegner vor. Doch ich konnte genau sehen, um wen es sich handelte.
    Ich sah mich selbst, aus Leibeskräften schreiend und mit den Armen fuchtelnd, um das Mädchen in dem weißen Kleid abzuwehren, dessen Gesicht nicht mehr das Gesicht war, das ich kannte. Es hatte sich in einen grotesken, von Würmern zerfressenen Totenschädel mit papierdünner, teilweise in Fetzen herabhängender Haut verwandelt. Die Augen waren verschwunden, nur schwarze, leere Löcher starrten mich an, und sie kreischte wutentbrannt: »Ich wurde zu dieser Teegesellschaft nicht eingeladen! Du hast uns einfach vergessen!«
    Julie kauerte derweil wimmernd in einer Ecke. Ein anderes Mädchen stürzte sich auf sie, kratzte, stieß und trat, zerrte an ihrem Kleid und legte schließlich die kleinen Hände um Julies Hals.
    All dies mit anzusehen, versetzte mich in eine lähmende Starre. Ich konnte die Bilder nicht abschütteln, und ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Sie hielten mich gefangen, obwohl ich alles darum gegeben hätte, aufspringen und davonlaufen zu können. Diese Szene war es also, die ich in der hintersten Ecke meines Gedächtnisses verschlossen hatte.
    Ich fuhr fort, schreiend gegen meinen unsichtbaren Gegner anzukämpfen – für meinen Vater unsichtbar, wohlgemerkt. Ich stieß Lampen um, riss Decken von den Betten, stolperte, fiel und rappelte mich wieder auf.
    Mein Vater stand nur da, paralysiert vor Schreck, nahm ich an, bis eines der Mädchen gegen seine Beine stieß und er am eigenen Leib spürte, dass sich noch jemand im Raum befinden musste. Da stürzte er sich in das Getümmel und versuchte, das zu packen zu bekommen, was mich peinigte, was immer es auch sein mochte. Dadurch lenkte er natürlich den Zorn des bewussten Drillings auf sich. Dieser ließ von mir ab, ging auf ihn los, schlug ihm

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