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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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mir zuwinkten. Und ich sah das nackte Entsetzen auf Noahs Gesicht, bevor ich die Hände vor mein eigenes schlug.
    »Aber ich spiele doch immer mit ihnen, Daddy! So wie mit Oma und Uroma. Oma ist gefallen und hat ein Baby verloren.«
    Mein Magen krampfte sich zusammen, das Atmen machte mir Mühe. Jetzt ist es so weit, dachte ich, jetzt erfahre ich alles . Ich verspürte den überwältigenden Drang, aufzuspringen, fortzulaufen und die Vision abzuschütteln, weil ich mir schon denken konnte, was ich als Nächstes zu sehen bekommen würde – meine verdrängten Erinnerungen an den Tag, an dem Julie Sutton starb.
    Es muss schließlich einen Grund dafür gegeben haben, dass ich diese Erinnerungen im hintersten, dunkelsten Winkel meines Gedächtnisses begraben habe, dachte ich, fieberhaft nach einer Ausrede suchend, um den Rest der Geschichte nicht hören und mit ansehen zu müssen. Vielleicht war es mir ja nicht bestimmt, zu erfahren, was damals wirklich passiert war. Ich hatte es mein ganzes Leben lang nicht gewusst und war doch ganz gut damit gefahren. Warum musste ich jetzt die Vergangenheit wieder aufwühlen?
    Aber andererseits … Was nutzte es mir, sämtliche von Iris’ Geschichten gehört zu haben, wenn ich nicht auch noch das Ende hörte – oder sah?
    Von weither drang die Stimme der alten Haushälterin an mein Ohr: »Schauen Sie weiter hin, Halcyon! Alles zieht an Ihnen vorüber.«
    Aber es war gar nicht Julie, die ich sah, sondern meine Mutter, ganz in ihre Fotos vertieft, blind für alles, was um sie herum vorging. Seelen einzufangen hatte eine berauschende Wirkung auf sie, das sah ich in ihren Augen. Wenn sie ihre Fotos entwickelte, glich sie einer Suchtkranken, magisch von dem angezogen, was ihre Bilder ihr enthüllten. Und in diesem Moment begriff ich, dass diese Gabe, diese Besessenheit, ihr nur wenig Zeit für Dinge wie Mann und Kind ließ. Deswegen sah sie die Gefahr auch nicht, in der ich schwebte. Mir wurde klar, dass ich diesen Teil der Geschichte als Warnsignal zu verstehen hatte. Ich machte mir eine geistige Notiz, nie zu vergessen, dass auch ich in gewisser Hinsicht gefährdet war. Ich durfte nicht den Blick für das verlieren, was wirklich wichtig war im Leben.
    »Was wäre denn so schlimm daran, wenn sie wirklich Besuch von ihren Vorfahren bekommt?«, versuchte meine Mutter die Ängste und Bedenken meines Vaters beiseitezuwischen. »Himmel, es sind schließlich nur meine Verwandten! Und somit auch ihre!«
    »Maddie, ich denke, wir sollten die Insel verlassen«, sagte er ruhig. »Einfach von hier weggehen.«
    »Machst du Witze?!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Soll ich meinen Vater etwa hier alleinlassen? Nein, Noah, das kommt überhaupt nicht in Frage!«
    Der Streit ging weiter. Türen knallten, es gab Tränen auf beiden Seiten.
    »Grand Manitou ist doch ein wundervoller Ort, um ein Kind großzuziehen«, setzte meine Mutter ihre Überzeugungsversuche fort. »Hallie hat Freunde, besucht eine gute Schule und kann die ganze Insel erkunden, ohne befürchten zu müssen, von einem Auto überfahren zu werden. Du hast einen prima Job, und ich kann von zu Hause aus arbeiten. Hier sind meine Wurzeln. Und Hallies Wurzeln! Du kannst sie doch nicht ernsthaft aus alldem herausreißen wollen, nur weil du dir einbildest, dass sie Geister sieht!«
    Den letzten Satz stieß sie in einem so giftigen Ton hervor, wie Noah ihn wohl noch nie von ihr gehört hatte. Ein resignierter Ausdruck trat auf sein Gesicht, und ich begriff: Vorerst würde niemand von hier fortgehen.
    Verzweifelt, bekümmert und verängstigt flüsterte er mir ins Ohr, dass er alles in seiner Macht stehende tun würde, um mich zu beschützen, und versprach, mit Adleraugen über mich zu wachen.
    Doch dann veränderte sich die Szene, und ich sah jemanden, der gerade auf die Insel gekommen war, in dem damals noch kleinen Dorfladen Lebensmittel einkaufen. Die Gestalt folgte meinem Vater und mir aus dem Laden und berührte ihn draußen am Ärmel. Als er sich umdrehte, stand er einer jungen Frau gegenüber, die ihn ernsthaft musterte, ehe sie verschwörerisch murmelte:
    »Ich sehe, dass Ihre Tochter über eine besondere Gabe verfügt.«
    Ich konnte förmlich hören, wie Noahs Herz einen Satz machte. Er holte tief Atem und flüsterte: »Eine Gabe? Was meinen Sie damit?«
    »Das zweite Gesicht. Ich habe es auch.«
    Mein Vater packte die junge Frau am Arm und zog sie zu einer ruhigen Straßenecke. »Hören Sie, ich habe keine Ahnung, wer Sie sind und

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