Insel der Schatten
greifbar spüren konnte. Ich roch den Duft des Grases an jenem Tag, schmeckte Zuckerguss auf meiner Zunge. Die Augen schließend verdrängte ich jeden störenden Gedanken, konzentrierte mich allein auf meine Empfindungen, lauschte auf die Geräusche, die an mein Ohr drangen, spürte die leichte Brise auf meinem Gesicht, bis mir plötzlich ein anderer Geruch in die Nase stieg – der eines vertrauten Rasierwassers. Des Rasierwassers meines Vaters.
Ich schlug die Augen auf, konnte aber nichts mehr von dem erkennen, was sich eigentlich vor mir hätte befinden müssen. Die Steinbank, der Garten und die dahinterliegende Klippe waren verschwunden, ebenso Iris. Ich sah nur meinen Vater.
Er saß, jünger, als ich es jetzt war, in einem Raum des Hauses, den ich für sein Arbeitszimmer hielt. Dort starrte er geistesabwesend aus dem Fenster und fuhr sich immer wieder mit der Hand durch das Haar. Wie voll es damals gewesen war, dachte ich überrascht. Nun kam meine Mutter, ganz offensichtlich schwanger, in einem langen, violetten Kleid und baumelnden Ohrringen in das Zimmer gerauscht und küsste ihn auf die Stirn.
»Ach, Madlyn«, hörte ich meinen Vater seufzen. »Ich habe keine Ahnung, ob ich einen guten Vater abgeben werde oder nicht. Bin ich bereit für ein Kind? Sind wir es?«
Madlyn lachte; ein helles, melodisches Lachen. »Niemand ist je bereit für ein Kind, Schatz. Sie treten in unser Leben, wenn sie dazu bereit sind.«
Noah blickte seiner Frau in die Augen. Ihrem Optimismus war er nicht gewachsen. »Vermutlich hast du recht.«
Die Szene löste sich in feine Rauchschwaden auf, die die Brise fortwehte. An ihre Stelle trat das Bild von mir, in meiner Wiege zappelnd. Ich sah meinen Vater, der sich strahlend über mich beugte.
»Lass sie schlafen, Noah«, mahnte meine Mutter lächelnd, dann führte sie ihn aus dem Raum.
Ein anderes Bild nahm Gestalt an. Meine Mutter saß, das lange, kastanienbraune Haar mit einem Tuch zurückgebunden, am Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer und betrachtete stirnrunzelnd Fotos, die sie in langen Reihen vor sich ausgebreitet hatte. Als mein Vater den Raum betrat, schob sie sie hastig zusammen.
»Ich mache mir Sorgen um Halcyon«, sagte er zu ihr.
»Das ist nichts Neues.« Madlyn erhob sich von ihrem Schreibtisch und schloss ihn in die Arme. »Du bist der fürsorglichste Vater auf diesem Planeten. Was stimmt denn diesmal nicht mit ihr, Liebling?«
»Madlyn, ich weiß, dass wir bereits darüber gesprochen haben, aber diesmal musst du mir wirklich zuhören. Schatz, ich habe bereits versucht, dir begreiflich zu machen, dass unsere Kleine blind ist.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Sie stellt niemals Augenkontakt her – mit niemandem, noch nicht einmal mit dir! Sie reagiert nicht auf den Anblick von Spielzeug oder Menschen oder Tieren. Du musst endlich den Tatsachen ins Gesicht sehen, Madlyn! Wir müssen mit ihr zu einem Arzt gehen.«
Seine ernsten, bittenden Worte jagten mir den altvertrauten Schauer über den Rücken. Ich beobachtete ein lockenköpfiges kleines Mädchen, das sich auf unsicheren Füßchen umdrehte und gegen eine Mauer prallte. Doch dieses Bild passte nicht zu dem nächsten, das an mir vorbeizog: wieder ich als Kleinkind. Aber dieses Mal sah ich eine Frau, in der ich Hannah erkannte, direkt an und lachte, als sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte, sie dann sinken ließ und »Kuckuck!« rief, bevor sie sich in Luft auflöste und meine Mutter den Raum betrat.
Bild um Bild glitt wie bei einer Diashow an mir vorüber. Ich spielte, lachte und unterhielt mich mit Hannah und Simeon und Amelia. Ich konnte anscheinend nicht sehen, was rings um mich herum vorging, aber ich konnte in die Welt der Toten blicken.
»Madlyn, ich glaube, es gibt noch ein anderes Problem mit Hallie«, unternahm Noah eines Nachmittags einen neuerlichen Vorstoß. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe sie heute mit deiner Mutter reden hören. Und das nicht zum ersten Mal.«
»Das ist doch lächerlich, Noah!«, wehrte Madlyn ab. »Sie hat nur eine in ihrer Fantasie existierende Freundin, mehr steckt nicht dahinter.« Sie selbst hatte schließlich ihr ganzes Leben lang mit ihrer toten Zwillingsschwester gesprochen – für sie war dies ein ganz normales Verhalten.
»Aber wie kann sie von hübschen weißen Bändern und diesem braunen Plüschteddy und den roten Blättern im Garten erzählen, wenn sie blind ist?«, gab Noah zu bedenken.
»Liebling, mach dir nicht zu viele Gedanken.«
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