Insel der Schatten
Madlyn drehte ihn herum und massierte seine Schultern. »Dieses Haus übt einen merkwürdigen Einfluss auf seine Bewohner aus. Aber das ist kein Grund zur Sorge! Mein Vater hat kein Wort gesprochen, bis er fünf war, und sieh ihn dir heute an!«
Ein anderes Bild materialisierte sich. Will! Als Junge! Mit mir im Garten, genau dort, wo ich jetzt saß. Er jagte mich gerade um eine der Steinbänke herum, und ich blieb plötzlich stehen, drehte mich um, sah ihn direkt an und stürzte mich dann auf ihn. Und ich wusste, dass ich in diesem Moment zum ersten Mal die Welt der Lebenden bewusst wahrnahm. Abgesehen von den Geistern der Toten war Wills Antlitz also das erste, was ich zu Gesicht bekam. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, als ich beobachtete, wie mein junges Ich auf Will lag und ihn gnadenlos auskitzelte. Viel hat sich seither nicht geändert, stellte ich fest, an die letzte Nacht zurückdenkend.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte Noah Madlyn tränenerstickt zu, während er mich fest in den Armen hielt.
»Es ist dasselbe Phänomen wie das mit dem Sprachvermögen meines Vaters«, flüsterte Madlyn über meine Schulter hinweg. »Ich weiß nicht, was geschehen ist oder warum. Für mich zählt nur, dass sie jetzt sehen kann.«
Aber das hieß nicht, dass ich meine Fähigkeit eingebüßt hatte, hinter den Schleier zwischen den Welten zu blicken, wie mir meine nächste Vision verriet, und ich sah, wie sehr die ständige Weigerung meiner Mutter, zuzugeben, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, weiterhin an den Nerven meines Dads zerrte.
»Hallie! Halcyon Crane!«, rief er, während er, wieder einmal auf der Suche nach mir, das Wäldchen vor dem Haus durchstreifte.
Ich stellte fest, dass ich nachmittags oft verschwunden gewesen war, um das Haus, das Anwesen und vor allem den Wald zu erkunden. Meist fand mein Vater mich dann im Gras liegend, von wo aus ich die in den Hafen ein- und auslaufenden Segelboote beobachtete oder zusammen mit meinem Großvater im Stall die Pferde striegelte, oder ich spielte im Schatten der großen Eichen, die in der Nähe der Klippe standen. Aber an diesem Tag hielt ich mich nicht an meinen Lieblingsplätzen auf, und es wurde bereits dunkel.
Noahs Kehle schnürte sich zu, als er, meinen Namen rufend, weiter und weiter lief, um mich zu suchen. Knorrige Äste und Zweige verfingen sich in seinem Hemd und seinem Haar. Er bahnte sich, fast blind vor Angst, einen Weg zwischen den Bäumen hindurch. »Hallie!« Seine Stimme klang schrill vor Verzweiflung.
»Hier bin ich, Dad!«, ertönte eine Stimme im Unterholz.
Noah blieb stehen und blickte sich nach allen Seiten um, konnte mich aber nirgendwo entdecken.
Dann: »Nicht da! Ich bin hier drüben!« Dann raschelte es im Gebüsch. »Buh!«, krähte ich, warf mich gegen die Beine meines Vaters und klammerte mich an ihm fest.
Ihm waren Schweißperlen auf die Stirn getreten. Er bückte sich, schwang mich in die Höhe und drückte mich fest an sich. Erst jetzt bemerkte ich, wie gefährlich nah ich an den Rand der Klippe geraten war.
Er hielt mich einen Moment lang fest. Ich roch das Babyshampoo in meinem Haar, vermischt mit dem Duft von Wildblumen, Lavendel, Wasser und Nacht.
»Was ist denn, Daddy?«
Noah setzte mich ab und kniete sich neben mich, sodass sich unsere Gesichter auf einer Höhe befanden. »Du kennst die Regel bezüglich der Klippe.«
Ich zog einen Flunsch. »Ich hab doch bloß gespielt.«
»Das interessiert mich nicht, junge Dame! Du weißt, dass du nicht alleine zur Klippe gehen darfst!«
Ich sah ihn unschuldig an. »Aber ich war nicht alleine, Dad.«
Noah schüttelte verwirrt und furchterfüllt zugleich den Kopf. »Wer war denn bei dir?«, fragte er endlich.
»Meine Freundinnen«, erwiderte ich. »Wir haben auf der Klippe Verstecken gespielt.«
Daraufhin umwölkte sich das Gesicht meines Vaters. Mein Kindheitsspiel war gefährlich geworden. Es hatte mich zu der Klippe geführt.
Was ich dann sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich erblickte mich am Rand des Felsens, zusammen mit drei gespenstischen Spielkameradinnen: den Drillingen. Wir saßen einander gegenüber, klatschten in die Hände und sangen: »Komm, liebe Freundin, spiel mit mir, drei Puppen hast du stets bei dir, wir steigen in den Apfelbaum, dort oben kann uns keiner schau’n.«
Eine eisige Hand legte sich um meine Kehle und schnürte mir die Luft ab. Ich sah, wie mein Vater mich von ihnen weg in seine Arme riss. Ich sah, wie sie
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