Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
daß sein Vater darauf gewartet hatte, ihn in die Arme zu nehmen.
Brian ging durch den sich allmählich lichtenden Morgennebel, unter hohen Bäumen hindurch, deren Stämme mit violetten und roten Flechten überzogen waren, durch das kühle, diffuse Licht, das die Farne und das Palmendickicht umgab. Er war ein großer, schlaksiger Mann, der in seiner Gestalt seinem Vater sehr ähnelte. Er hatte dunkles, widerspenstiges Haar, einen bräunlichen Teint und kühle blaue Augen. Frauen fanden sein schmales Gesicht melancholisch und sehr anziehend. Sein Mund war entschlossen und eher grüblerisch als fröhlich.
Und das fanden die Frauen ebenfalls anziehend – die Herausforderung, diese Lippen zu einem Lächeln zu bewegen.
Die fast unmerkliche Veränderung des Lichts verriet ihm, daß es Zeit war, nach Sanctuary zurückzukehren. Er mußte den Gästen Frühstück machen.
Brian fühlte sich in der Küche ebenso wohl wie im Wald. Auch das war ein Punkt, den sein Vater sehr seltsam fand. Und Brian hatte schon das eine oder andere Mal amüsiert bemerkt, daß sich Sam Hathaway fragte, ob sein Sohn wohl schwul sei. Denn wenn ein Mann kochte, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, konnte schließlich mit ihm irgendwas nicht stimmen.
Wenn es ihre Art gewesen wäre, offen über solche Dinge zu sprechen, hätte Brian ihm gesagt, daß er durchaus Spaß daran hatte, perfekte Baisers zuzubereiten, und beim Sex trotzdem Frauen bevorzugte. Aber er neigte nun mal nicht zu Vertraulichkeiten.
Und lag dieser Wunsch, andere Menschen auf Distanz zu halten, nicht in der Familie?
Brian bewegte sich im Wald so leise wie das Rotwild, das dort zu Hause war. Er entschied sich für den längeren Weg, der ihn am Half Moon Creek vorbeiführte, wo der Nebel wie weißer Rauch vom Wasser aufstieg und drei Hirschkühe gemächlich in der morgendlichen Stille ästen.
Es ist noch Zeit, dachte Brian. Auf Desire war immer Zeit. Er ließ sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder, um
den Anblick der mit Morgentau bedeckten Blüten zu genießen.
Die Insel war an der weitesten Stelle nur zwei Meilen breit und weniger als dreizehn Meilen lang. Brian kannte jeden Zentimeter: den sonnengebleichten Sand der Strände, die kühlen, schattigen Sümpfe mit den urzeitlich wirkenden, behäbigen Alligatoren. Er liebte die weich geformten Dünen, die herrlich feuchten, wogenden, von jungen Kiefern und majestätischen Eichen gesäumten Wiesen.
Aber am meisten liebte er den Wald mit seinen dunklen Tiefen und Geheimnissen.
Er kannte die Geschichte der Insel und wußte, daß hier einst Baumwolle und Indigopflanzen angebaut, die Felder von Sklaven bestellt worden waren. Seine Vorfahren hatten auf diese Weise ein Vermögen gemacht. Die Reichen hatten dieses entlegene kleine Paradies als Spielwiese entdeckt, hatten hier Rotwild und Wildschweine gejagt, Muscheln gesammelt, im Fluß und im Meer gefischt.
Sie hatten im Glanz der kristallenen Kronleuchter rauschende Bälle gefeiert, im Spielsaal achtlos riesige Summen gesetzt, den guten Bourbon der Südstaaten getrunken und dicke Havannas geraucht. Sie hatten an den heißen Sommernachmittagen auf der Veranda gelegen und sich von Sklaven kühle Limonade servieren lassen.
Sanctuary war eine Enklave der Privilegierten gewesen – und das Vermächtnis eines zum Untergang verurteilten Lebensstils.
Mehr Geld noch war durch die Hände des Stahl- und Schiffsmagnaten gegangen, der Sanctuary zu seinem privaten Refugium gemacht hatte.
Und auch wenn das Geld inzwischen verbraucht war, stand Sanctuary noch immer. Und die Insel war noch immer in den Händen der Nachkommen dieser Baumwollkönige und Stahlbarone. Die über die Insel verstreuten Cottages, hinter den Dünen aufragend, in den Schatten der Bäume geschmiegt oder das breite Band des Pelican Sound überblickend, wurden von einer Generation an die nächste weitergegeben, so daß nie mehr als eine Handvoll Familien Desire ihre Heimat nennen konnte.
Und so sollte es bleiben.
Sein Vater kämpfte ebenso erbittert gegen Landerschließer wie gegen Umweltschützer. Auf Desire würde es keine Ferienhotels geben, und keine noch so wohlmeinende Institution konnte Sam Hathaway davon überzeugen, seine Insel zum Naturschutzgebiet erklären zu lassen.
Es ist, dachte Brian, das Denkmal meines Vaters für seine treulose Frau. Sein Segen und sein Fluch.
Heute kamen trotz oder vielleicht wegen der Abgeschiedenheit viele Besucher. Um das Haus, die Insel, die Stiftung erhalten zu
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