Insel der Verlorenen Roman
verrückt. Sie würde Stephen vermissen. Doch Richard verlor noch viel mehr. Aber so war das Leben. Nichts blieb, wie es war, alles veränderte sich, und nie wusste man im Voraus, was sein würde. Dass Stephen auf einem Schiff namens Kitty fuhr, bedeutete ihr viel. Die Kitty würde ihn sicher ans Ziel bringen.
»Kannst du uns Tobias hier lassen?«, fragte sie.
Die lebhaften Brauen gingen nach oben, die leuchtend blauen Augen funkelten.
»Ich soll mich von Tobias trennen? Ausgeschlossen, Kitty. Tobias gehört zur Marine, er begleitet mich auf allen meinen Reisen. Ich habe ihn so abgerichtet, dass er immer da sein will, wo ich bin.«
»Wirst du Major Ross besuchen?«
»Ganz bestimmt.«
Richard hatte noch eine Bitte, aber er wartete damit, bis er mit Stephen die Schlucht zur Straße nach Queensborough hinaufstieg. »Würdest du mir einen Gefallen tun, Stephen?«
»Jeden, das weißt du. Soll ich deinen Vater besuchen oder Vetter James, den Apotheker?«
»Nur wenn du dazu Zeit hast, sonst nicht. Aber ich möchte dir einen Brief an Jem Thistlethwaite in der Wimpole Street in London mitgeben, und ich bitte dich, ihn persönlich zu überbringen. Ich werde Jem nicht mehr sehen, aber ich wünsche mir, dass ihm jemand berichtet, wer ich jetzt bin.«
»Das mache ich gern.« Am weißen Grenzstein setzte Stephen mit einem grimmigen Blick auf den verschmitzt lächelnden Richard die Perücke auf. »Du hast eine Woche Zeit für deinen Brief. Ich gebe dir Bescheid, wenn wir fahren.«
Vorsichtig nahm Richard die Öllampe vom Regal. Er hatte sie am selben Stand gekauft wie das Teeservice. Die Lampe hatte allerdings mehr gekostet, weil zu ihr ein Fünfziggallonenfass mit Walfischtran gehörte. Er machte von der Lampe nur sparsam Gebrauch - nach der Arbeit war er sowieso zu müde, um noch lange zu lesen -, aber ihr Besitz ermöglichte es ihm, sich auch nachts noch in die Bücher zu vertiefen, die Jem Thistlethwaite ihm geschickt
hatte. Das Lesen war die einzige Freizeitbeschäftigung, die er sich neben der Familie erlaubte. Kitty, das hatte er inzwischen begriffen, würde niemals Lesen und Schreiben lernen, weil es ihr nicht wichtig genug war. Die einzige Wissensquelle im Haus war er, und deshalb musste er lesen.
Das Papier schimmerte im Licht der Lampe golden. Richard tauchte eine Stahlfeder in das Tintenfass und schrieb, ohne zu zögern. Das, was er jetzt sagen wollte, war er zuvor schon viele Male in Gedanken durchgegangen.
Lieber Jem, der Überbringer dieses Briefes ist mein bester Freund. Der einzige Trost, der mir bleibt, wenn ich ihn verliere, ist das Bewusstsein, dass du ihn kennen lernen und genauso lieben wirst wie ich. Seit die Alexander auf der Themse ankerte, sind wir beide auf irgendeine Weise stets dem gleichen Weg gefolgt: von Schiff zu Schiff und von Ort zu Ort. Er als freier Mann, ich als Sträfling, aber als Freunde von Anfang an. Wenn ich nicht Kitty und die Kinder hätte, würde ich über seinen Weggang nicht hinwegkommen.
Was ich dir auf diesen Seiten schreibe, unterscheidet sich von dem, was ich geschrieben habe, nachdem deine Kiste angekommen war. Jener Brief ging durch die Hände zahlloser Beamten und war neugierigen Schnüffelnasen und Zensoren ausgeliefert. Diesen Brief dagegen wird Stephen nicht aus den Händen geben. Ich kann also alles sagen, was ich will.
Ich werde in diesem Jahr, 1793, fünfundvierzig Jahre alt. Von meiner äußeren Erscheinung und meinem körperlichen Zustand kann dir Stephen besser berichten als ich. Wir haben keine Spiegel hier auf Norfolk Island. Ich sage nur so viel: Ich bin kerngesund und kann heute vermutlich länger und härter arbeiten als damals als junger Mann in England.
Während ich hier am späten Abend sitze und schreibe, höre ich nur das Rauschen der gewaltigen Bäume im Wind und ich rieche ihr Harz und den Regen, der vor einigen Stunden hier gefallen ist. Wie ich Stephen kenne, wird er dich diesen Brief in aller Ruhe zu Ende lesen lassen, bevor er etwas sagt. Auch dieser Gedanke befreit mich beim Schreiben.
Ich werde nicht mehr nach England zurückkehren. Meine Heimat ist jetzt Norfolk Island, und so wird es immer bleiben. Die einfache Wahrheit ist: Ich will mit dem Land nichts mehr zu tun haben, das mich auf einem Sklavenschiff in die Botany Bay geschickt hat. Über zwölf Monate war ich unter Deck mit vielen anderen in unsäglichem Elend zusammengepfercht. Diese Zeit verfolgt mich immer noch in meinen Träumen.
Dass nicht alles schrecklich war,
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