Insel meiner Sehnsucht Roman
ihn zum letzten Mal lebend sehen.
Als alles vorbereitet war, wurde Atreus behutsam von dem Bett gehoben, auf dem er über eine Woche lang gelegen hatte, und zum Operationsraum getragen. Es war kurz nach Mittag, helles Licht strömte durch die großen Fenster herein, an denen auf Elenas Anweisung Gaze hing. Bei ihrer heiklen Arbeit wollte sie nicht von Insekten gestört werden.
Zahlreiche Menschen versammelten sich im Palasthof. Was geschehen sollte, war nicht offiziell bekannt gegeben worden. Trotzdem hatte sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Priester und Priesterinnen wanderten umher und spendeten den Leuten Trost.
Unten in der Stadt legten alle Bewohner ihre Arbeit nieder. Nur das Gezwitscher der Vögel durchbrach die Stille.
Die Familie begleitete den Vanax bis zur Tür des Operationsraums, trat aber nicht ein. Nur ihrer Nichte hatte Elena erlaubt, anwesend zu sein, weil sie glaubte, je weniger Menschen in dem Raum waren, desto länger würde die reinigende Wirkung des brennenden Schwefels anhalten.
Während Atreus in den Raum gebracht wurde, erfasste Kassandra der fast unwiderstehliche Wunsch, den Eingriff zu verhindern. Obwohl sie die Lippen fest zusammenpresste, entrang sich ein leises Stöhnen ihrer Kehle.
Royce legte einen starken Arm um ihre Taille. »Sicher ist es besser, wenn du woanders wartest.«
Weil sie ihrer Stimme nicht traute, nickte sie nur. Bis zum Beginn der Operation würde noch einige Zeit verstreichen. Elena hatte angekündigt, vorher würde sie Atreus untersuchen, um sicherzugehen, dass sich sein Zustand nicht auf gefährliche Weise verschlechtert hatte. Danach sollte er sorgfältig gewaschen werden.
»Wohin möchtest du gehen, Kassandra?«, fragte Royce.
»Keine Ahnung… Nicht allzu weit weg…« Falls sie plötzlich geholt werden musste.
»In diesem riesigen Palast gibt es gewiss einen Raum, den du besonders gern aufsuchst.«
Bevor sie antwortete, dachte sie kurz nach. »Komm mit mir, ich will dir etwas zeigen.«
Sie folgten mehreren Korridoren zu einem Trakt, der Royce sehr alt erschien. Wenn er auch gut instand gehalten wurde, war der Boden an manchen Stellen eingesunken, unter den Schritten mehrerer Generationen.
Schließlich öffnete Kassandra eine breite Doppeltür, und sie betraten einen großen Raum mit hoher Decke. Am anderen Ende stand ein Marmorblock, etwa fünf Fuß hoch. Jemand hatte ihn mit einem Meißel bearbeitet. Aus dem Stein begannen sich die edlen Gesichtszüge einer Frau herauszukristallisieren.
»Das ist Atreus Studio«, erklärte Kassandra und wies auf andere Statuen. Teils vollendet, teils im Anfangsstadium, reihten sie sich entlang der Wände aneinander. Auf einigen Arbeitstischen lagen kleinere Kunstwerke aus Ton oder Bronze. »Sicher würde es ihn nicht stören, wenn er wüsste, dass wir uns hier umsehen. Hier fühle ich mich meinem Bruder am nächsten.«
»Das verstehe ich.« Voller Bewunderung betrachtete Royce die Skulpturen und erkannte, was ihm dieser Raum bot – einen außergewöhnlicher Einblick in die Seele eines Mannes, den die meisten Menschen nur als Vanax von Akora kannten. »Wie oft kann er in seinem Atelier arbeiten?«
»Längst nicht so oft, wie er möchte. Aber hin und wieder stiehlt er sich ein paar Stunden, manchmal sogar einen ganzen Tag.« Sie zeigte auf ein schmales Sofa, das in einer Ecke stand. »Gelegentlich schläft er hier, wenn ihn eine besonders kreative Phase ermüdet hat.«
Royce studierte die kleine Tonfigur eines Läufers, die so lebensecht wirkte, dass sie über den Tisch zu eilen schien. »Meinst du, er würde lieber das Leben eines Künstlers führen, als Akora zu regieren?«
»Obwohl er nie darüber spricht – sicher fragt er sich ab und zu, wie sein Leben verlaufen würde, wenn er nicht der
Erwählte wäre.«
»Wollte er das nicht?«
»Vermutlich nicht. Weil er der älteste Sohn der Familie und unser Großvater der Vanax gewesen war, erwarteten die Akoraner natürlich, Atreus würde den Thron besteigen. Doch ich glaube, er wäre froh gewesen, wenn jemand anderer die Macht übernommen hätte.«
»Wäre das möglich gewesen? Hätte jemand verkünden können, er halte sich für den Erwählten?«
»Gewiss, falls er die Prüfung bestanden hätte.«
»Wie ich mich entsinne, willst du nicht über dieses Ritual reden.«
»Tut mir Leid.« Lächelnd zuckte die Achseln. »Ich möchte dir nichts verheimlichen. Aber ich weiß selbst nicht viel darüber. Worum es dabei geht, erfährt nur der
Weitere Kostenlose Bücher