Insel meiner Sehnsucht Roman
Verzweiflung eines Volkes, das seiner Seele beraubt worden war.
Und dann die Hoffnung, die Gebete, die Rituale, die der Suche nach dem neuen Erwählten dienten … Einmal hatten sie zwei lange Jahre gedauert. Aber meistens wurde der nächste Vanax schon nach ein paar Monaten gefunden. Diesmal durfte Akora weder Jahre noch Monate verstreichen lassen, denn die rote Schlange lag auf der Lauer.
Wenn mein Bruder tot ist … Kassandra schaute zum Himmel hinauf und sah weiße Wolken, flaumig wie der Flachs auf sommerlichen Feldern. Über der Stadt lag strahlender Sonnenschein. Da und dort stiegen Rauchsäulen harmloser, beglückender Herdfeuer empor.
Sonst nichts.
In ihrer maßlosen Erleichterung konnte sie kaum atmen. »Er lebt«, hauchte sie.
Diese Erkenntnis hatte auch Royce gewonnen. Das verriet ihr sein Lächeln.
»Er lebt!«, wiederholte sie und lachte unter Freudentränen.
Sobald das Schiff vor Anker gegangen war, eilten sie zum Palast hinauf. Im Flügel der königlichen Familie kam ihnen Andrew entgegen. Nachdem er seine Tochter umarmt und Royces Hand geschüttelt hatte, erklärte er: »Wir wären zum Kai hinuntergegangen. Aber Phaedra erträgt es nicht, Atreus auch nur für ein paar Minuten allein zu lassen.«
»Wie geht es ihm?«, fragte Kassandra und umklammerte Royces Arm.
»Er lebt«, antwortet Andrew leise. »Ab und zu öffnet er die Augen, und Phaedra glaubt, er würde uns erkennen. Da bin ich mir nicht so sicher. Immerhin bewegte er zwei Mal einen Finger, als ich mit ihm sprach.«
»Nur ein kleiner Hoffnungsschimmer«, flüsterte Kassandra. Trotzdem war sie dankbar dafür. Solange ihr Bruder lebte …
»Jetzt sitzt Elena bei ihm«, berichtete ihr Vater. »Bald müssen wir uns entscheiden.«
Ob Elena die Operation vornehmen sollte, die den Vanax heilen oder töten würde, die Akora retten oder ins Chaos stürzen mochte … Währenddessen wartete Deilos in seinem Versteck auf eine Gelegenheit, um seine zerstörerischen Pläne zu verwirklichen.
»Ja, sehr bald«, bestätigte Kassandra und glaubte zu beobachten, wie die letzten Sandkörner durch das Stundenglas ihres Lebens rannen.
16
»Bei dieser Operation wird ein winziger Teil der Schädeldecke entfernt«, erklärte Elena, »an der Stelle, wo der Vanax am schlimmsten verletzt wurde. Ich nehme an, dieses Knochenstück misst etwa einen Zoll im Durchmesser. Das kann ich erst im Lauf des Eingriffs genauer abschätzen. Unter Umständen ist es nötig, etwas mehr herauszunehmen.«
Die Familie saß an einem langen Tisch, in dem Raum, wo Atreus normalerweise mit den Ratsherren tagte. Auf Kassandras Wunsch nahm auch Royce an der Besprechung teil, und Brianna hatte ihre Tante begleitet.
»Wird durch die Entfernung des Knochenteils der Druck auf das Gehirn gemildert?«, fragte Andrew.
Die Heilkundige nickte. »Darauf kommt es bei diesem Eingriff an. Wie Sie wissen, hat der Vanax eine Gehirnerschütterung erlitten. Ob auch die Schädelplatte angeknackst wurde, weiß ich noch nicht. Das wird sich während der Prozedur zeigen.«
»Mit anderen Worten – Sie könnten mit der Operation beginnen und plötzlich vor einem ernsthaften Problem stehen?«
»Ja, das wäre denkbar. Vielleicht muss ich einen größeren Teil der Schädeldecke herausschneiden.«
»Das würde Atreus nicht überleben«, flüsterte Phaedra.
»In unseren medizinischen Schriften finden sich Berichte über Patienten, die am Leben blieben, obwohl beträchtliche Teile ihrer Schädelplatten entfernt worden waren. Allerdings wird nicht erwähnt, ob sie vollends genesen sind.«
»Was wird geschehen, wenn das Knochenstück herausoperiert wurde?«, erkundigte sich Kassandra.
»Danach werden wir unser Bestes tun, um eine Infektion zu vermeiden«, entgegnete Elena. »Und wir warten ab, in der Hoffnung, das Gehirn wird nach der Reduzierung des Drucks von selbst heilen. Sobald es genesen ist, müsste der Vanax das Bewusstsein wiedererlangen. Bis er sich erholt hat, dürfte einige Zeit verstreichen. Aber die Schädeldecke wird nachwachsen und die Lücke schließen, zumindest teilweise.«
»Und wenn das Gehirn meines Bruders so schwer verletzt ist, dass ihm nicht einmal die Linderung des Drucks helfen kann?«
»Dann wird er nicht genesen, Atreides. In diesem Fall würde die Operation seinen Tod wahrscheinlich beschleunigen.«
Beschwichtigend ergriff Andrew die Hand seiner Frau. »Gibt es wirklich keine Alternative?«
Elena schüttelte den Kopf. »Eines Tages werden wir vielleicht in die Gehirne
Weitere Kostenlose Bücher