Insel meiner Sehnsucht Roman
Jedenfalls beharren Sie auf diesem Standpunkt. Worauf es ankommt – man kennt Sie auf beiden Seiten. Und weil Sie Hawkforte heißen, wage ich zu behaupten, dass Ihnen beide vertrauen.«
Oder keine, dachte Royce. Doch diesen Gedanken behielt er für sich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Majestät.«
»Nein, einfach nur vernünftig. Ich brauche einen Mann wie Sie, der zwischen beiden Parteien vermitteln kann. Stellen Sie fest, was man tun kann, um die Situation zu entspannen und die Dinge wieder ins Lot zu bringen.«
Plötzlich erinnerte sich Royce an einen alten Kinderreim.
»Humpty Dumpty saß auf einer Mauer.
Humpty Dumpty fiel ganz tief hinab.
Humpty Dumpty kam nie mehr nach oben,
Obwohl sich eine Heerschar so viel Mühe drum gab.«
Aufgedunsen, mit blutunterlaufenen Augen, verkörperte Prinny einen erbärmlichen Humpty Dumpty. Trotzdem versprach Royce: »Ich werde mein Bestes tun, Sire.«
Kurz danach verließ er das Zimmer, von neugierigen Höflingen beobachtet, die wie üblich in der Nähe des Prinzregenten herumlungerten und seinem Besucher nicht mehr entlockten als eine knappe Antwort auf ihren eifrigen Gruß. Vor der königlichen Residenz blieb Royce stehen, wandte sein Gesicht zur Sonne und gönnte sich eine kurze Ruhepause, um nachzudenken. Was Prinny verlangte, war unerfüllbar. Doch das durfte man ihm natürlich nicht erklären. Vom geräuschvollen Londoner Straßenverkehr umgeben, wünschte er nicht zum ersten Mal, man würde eine Alternative zur Monarchie mit erblicher Thronfolge finden. Zumindest in England übte das Parlament eine beträchtliche Macht aus. Aber nach Royces Ansicht genügte das nicht. Frankreich hatte einen König durch einen Kaiser ersetzt – keine brauchbare Lösung. Und in Amerika experimentierte man mit dem Republikanismus, ein außergewöhnliches Wagnis. Ob es zum Erfolg führen würde, blieb abzuwarten. England musste eben einfach seinen eigenen Weg suchen.
Ein paar Sekunden lang erwog er, in einen seiner Clubs zu gehen. Aber sobald er dort erschien, wäre er dem hartnäckigen Versuch einiger Mitglieder ausgeliefert, ihn in ein Gespräch zu verwickeln – vorzugsweise über ein Thema, das später auf begierige Ohren in ganz London stoßen würde. Der Prinzregent hatte seine Geduld ohnehin schon zur Genüge strapaziert. Und so schlenderte er zum Strand, ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Doch er war nicht überrascht, als ihn seine Schritte zu Rudolph Ackermanns Grafikhandlung führten.
Mr. A., wie er von seinen Kunden genannt werden wollte, machte gute Geschäfte, indem er den anscheinend unersättlichen Appetit der Öffentlichkeit auf politische Karikaturen nutzte. Im Schaufenster, vor dem Royce jetzt stand, wurden die neuesten dieser Werke ausgestellt. Er erwartete, die üblichen Bilder zu erblicken, die den Prinzregenten, aristokratische Gesellschaftsgrößen oder neureiche Bürgerliche verhöhnten. Sich selbst hatte er in dieser Auslage noch nie entdeckt und Mr. A. darauf hingewiesen. Da hatte der Mann erwidert, sogar in London würde es Leute geben, die er respektiere, und es dabei bewenden lassen.
Aber an diesem Morgen war das Schaufenster seltsamerweise fast leer. Nur eine einzige Zeichnung lehnte an einer kleinen Staffelei in der Mitte, von elegant drapierter Seide umgeben. Und es war nicht einmal eine Karikatur, sondern das Porträt einer jungen Frau mit langen dunklen Locken, einem bezaubernden Lächeln und Augen voller Klugheit und Herzenswärme.
Kassandra.
Einerseits war er verblüfft, andererseits nicht. Ihr Besuch im Carlton House hatte nicht nur die Aufmerksamkeit gehobener Kreise, sondern auch der breiten Öffentlichkeit erregt, die dazu neigte, außergewöhnliche Schönheiten sofort nach deren gesellschaftlichem Debüt auf den Thron des Ruhms zu heben. Und wie schön Kassandra war, zeigte das Porträt deutlich genug.
Wer mochte es gezeichnet haben? Einer von Madame Duprès Freunden, dem sie diesen speziellen Auftrag erteilt hatte? Ein Dienstbote im Carlton House, der seinen mageren Lohn aufbesserte? Oder ein Mitglied der besseren Gesellschaft, das seine Spielschulden begleichen musste?
Nicht, dass es eine Rolle spielte. Wie immer der Künstler hieß, er hatte großartige Arbeit geleistet. Je länger Royce das Bild anstarrte, desto klarer erkannte er, wie gut Kassandras Wesen getroffen war – ihre Natürlichkeit, ihr Humor, ihre Begeisterung für alles, was das Leben zu bieten hatte. Ganz zu schweigen von den vollen Lippen, dem schlanken
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