Insel meiner Sehnsucht Roman
gewesen. Eigentlich sollte ich das gar nicht wissen. Aber ich weiß es. Und ich habe mich immer gefragt, wie es wäre, wenn ich eine Schwester hätte.«
Kassandra trat ein wenig zurück und schaute sie an. »Auf Akora bringt man jeden Sommer alle Mädchen, die im jeweiligen Jahr geboren worden sind, in den Tempel, wo sie ihren Segen erhalten. Für die Jungen gibt es einen anderen Ritus. Dieser besondere ist nur für das weibliche Geschlecht bestimmt. Wenn das kleine Mädchen eine ältere Schwester hat, nimmt sie die Zeremonie vor und träufelt geheiligtes Öl auf seine Stirn. Manchmal sind die Schwestern erst zwei oder drei Jahre alt. Aber sie erfüllen ihre Pflicht ernsthaft und feierlich.«
Auf Joannas Wangen glänzten Tränen, und Kassandra wischte sie mit einer Fingerspitze weg.
»Glaub mir, in deinem Herzen lebt deine Schwester. Mag sie auch nicht von dieser Welt sein – sie ist ein Kind der Schöpfung.«
»Besteht da ein Unterschied?«
»Oh ja,«, antwortete Kassandra lächelnd. »In der Schöpfung ist alles möglich, und alles existiert. Nur in dieser kleinen Welt werden uns Grenzen gesetzt.«
Joanna schaute ihr tief in die Augen, mit einer Intensität, die Kassandra nicht ignorieren konnte. Da entsann sie sich, dass auch ihre Schwägerin eine Gabe besaß – verschwundene Menschen und verlorene Dinge zu finden.
»Spürst du diese anderen Möglichkeiten?«, fragte Joanna.
»Hin und wieder. Hast du jemals zwei Spiegel so postiert, dass der eine die Reflexion des anderen zeigt?«
»So etwas habe ich bei Schneiderinnen beobachtet.«
»Unzählige Male siehst du dich selbst.«
»Aber das sind nur Spiegel.«
»Nein, es ist die Wahrheit. Aber genug davon, sonst bekommen wir noch Kopfschmerzen. Also kann Royce heute nicht zu uns kommen. Wie wollen wir uns amüsieren?«
»So ungern ich es auch erwähne – Madame Duprès …«, begann Joanna.
»Erst einmal muss ich dich um einen Gefallen bitten.«
»Natürlich, was immer du willst.«
»Eine deiner Dienerinnen heißt Sarah. Da sie so groß wie ich ist und etwa die gleiche Figur hat, würde ich sie gern beauftragen, bei der nächsten Anprobe meinen Platz einzunehmen.«
»Was für eine ausgezeichnete Idee! Dann hätten wir Zeit, um …«
»… um zu tun, was uns gefällt. Aber keine Frau soll leiden, ohne entschädigt zu werden. Wie ich herausgefunden habe, fühlt sich Sarah zu einem jungen Diener hingezogen. Da dachte ich, ein hübsches neues Kleid …«
»Wunderbar! Das werde ich Mrs. Mulridge sagen. Sie wird zwar murren, aber ein Kleid für Sarah beschaffen. Und jetzt erzähl mir, wohin du am liebsten gehen würdest.«
»Überallhin«, erwiderte Kassandra. Dann fügte sie hastig hinzu: »Aber du darfst dich nicht zu sehr anstrengen.«
»Keine Bange, ich werde unseren Ausflug genießen – insbesondere, wenn wir das Gunter's besuchen …«
»… und Eiscreme essen? Oh, das wäre himmlisch!«
Sie machten sich zu Fuß auf den Weg, denn die Konditorei lag nicht weit entfernt, und beide wollten frische Luft schöpfen. So gut sie es vermochten, ignorierten sie die Wachtposten, die ihnen folgten – eine stumme Warnung, an alle gerichtet, die töricht genug wären, die jungen Damen zu behelligen.
Am Berkeley Square angekommen, gingen sie in die berühmte Konditorei und fühlten sich herrlich genusssüchtig, weil jede eine große Papiertüte voller kandierter Früchte, Marzipan- und Nougatbonbons, Pastillen und Toffees kaufte. Auch die Leibwächter wurden mit Süßigkeiten beschenkt, die sie dankbar und erfreut entgegennahmen.
Nachdem die zwei Frauen voller Hingabe große Portionen Eiscreme verspeist hatten, schlenderten sie zum Strand. Dort beobachteten sie, wie das Schaufenster von Ackermanns Grafikgeschäft mit neuen Karikaturen dekoriert wurde. »Seltsam«, bemerkte Joanna, »normalerweise wird die Auslage am frühen Morgen hergerichtet.«
Arm in Arm wanderten sie die Bond Street entlang und besuchten einige Läden. Eigentlich wollten sie sich nur umsehen. Aber Joanna fand ein Babyhäubchen, mit winzigen Veilchen bestickt, dem sie nicht widerstehen konnte.
Am späteren Nachmittag kehrten sie zur Mayfair-Residenz zurück, und als sie in die Halle traten, hörten sie Schwerter klirren.
Die weißen Leinenhemden klebten schweißnass an den breiten Schultern der beiden Männer. Unter dem weichen Stoff der Hosen zeichneten sich schmale Hüften und muskulöse Schenkel ab. Einen Arm erhoben, standen sie einander gegenüber, in anmutigen Posen, die an
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