Insel meiner Sehnsucht Roman
Hals, dem Busenansatz am unteren Rand des Bilds, über dem angedeuteten Ausschnitt eines Kleids.
Die Tür prallte gegen die Wand, als er in das Geschäft und zum Ladentisch aus poliertem Mahagoni eilte, hinter dem ihn Mister A. zu erwarten schien.
»Guten Morgen, Mylord – ich dachte mir schon, dass Sie zu mir kommen würden. Eine wundervolle Zeichnung, meinen Sie nicht auch? Sicher kennen Sie die Prinzessin von Akora, nicht wahr? Natürlich, sie ist ja Ihre Schwägerin«, fügte der Ladenbesitzer hinzu, als würde ihm das eben erst einfallen. »Wenn man sich das vorstellt …«
»Würden Sie mir verraten, wer das Porträt gezeichnet hat?«
»Nun, was das betrifft – der Künstler zieht es vor, anonym zu bleiben.« Ausdrucksvoll zuckte Mister A. die Achseln, ein Mann von Welt, der einem anderen gegenüberstand. »Sie wissen ja, wie das ist.«
In der Tat. »Wie viel?«
Mit dieser Frage schien Royce den pfiffigen Geschäftsmann ausnahmsweise zu verwirren. »Wie, bitte?«
»Was soll das Bild kosten?«
Mister A. erholte sich erstaunlich schnell von seiner Überraschung und nannte einen Preis, über den jeder vernünftige Mensch gelacht hätte. Royce stimmte ohne Zögern zu, und der Ladeninhaber runzelte die Stirn. Offenbar hatte er sich auf eine amüsante Feilscherei gefreut. »Aber – Mylord, es ist nur eine Zeichnung.«
»Nehmen Sie das Geld, Rudolph.«
Dass Royce ihn mit dem Vornamen ansprach, was überdeutlich auf die langjährige Bekanntschaft hinwies, brachte Mister A. sichtlich aus dem Konzept. Langsam entgegnete er: »Da ich ein Ehrenmann bin, Mylord, würde mich mein Gewissen plagen.«
Royce lachte. »Dann spenden Sie die Summe eben für einen wohltätigen Zweck. In London gibt es weiß Gott genug Bedürftige.«
»Vielleicht könnte ich einen hungernden Künstler unterstützen …«
»Welch eine gute Idee! Die Zeichnung …«
»… gehört Ihnen, Mylord.«
Zufrieden verließ Royce den Laden. Er hatte beschlossen, nicht zu überlegen, warum er das Porträt gekauft hatte. So spontan verhielt er sich nur selten.
Bevor er in sein Haus zurückkehrte, widerstand er der Versuchung, das Bild zu betrachten. Erst in seinem Arbeitszimmer entfernte er die Schnur und das blaue Papier. Auf dieser sorgsamen Umhüllung hatte Mister A. bestanden. Eine Zeit lang starrte Royce die Zeichnung an – zweifellos ein gelungenes Porträt. Aber kein Ersatz für das Original.
Mister A. hatte es sich nicht nehmen lassen, auch die kleine Staffelei einzupacken. Dafür fand Royce einen Platz in einem der Bücherregale, die an allen vier Wänden vom Boden bis zur Decke reichten. Er platzierte das Bild so, dass er es von seinem Schreibtisch aus sehen konnte. Auch in diesem Fall weigerte er sich, seine Beweggründe zu erforschen.
»Er lässt sich entschuldigen«, erklärte Joanna, nachdem sie den kurzen Brief ihres Bruders gelesen hatte. »Da er ins Carlton House gerufen wurde, weiß er nicht, wann er Zeit finden wird, um uns zu besuchen.«
»Wie schade …« Kassandra schaute in den Spiegel. Irgendwie schaffte sie es, nicht zu seufzen. »Aber das verstehe ich natürlich.«
Joanna faltete den Briefbogen zusammen. »Anscheinend braucht der Prinzregent neuerdings viel Zuspruch, und ich fürchte, es geht ihm nicht gut.«
»Kein Wunder – die Verantwortung seiner Position lastet bleischwer auf seinen Schultern.«
Bestürzt hielt Joanna den Atem an. Dann fragte sie leise: »Sagst du das, weil du irgendeine Vision hast?«
»Nein«, erwiderte Kassandra überrascht. »Das verrät mir mein gesunder Menschenverstand. Ein Sohn, jahrelang im Schatten eines dominanten Vaters – nicht durch dessen Tod an die Macht gekommen, sondern weil eine mysteriöse Krankheit den König in den Wahnsinn getrieben hat. Wäre Shakespeare noch am Leben, würde er ein Drama darüber schreiben.«
»Vielleicht wird ein anderer Dichter das Thema aufgreifen.«
»Byron?« Kassandra lachte. »Oh, ich sehe ihn schon vor mir. Wie ein wiedergeborenes Insekt steigt er aus seinem Kokon empor und entdeckt eine Welt, die bisher jenseits seiner ichbezogenen Grenzen lag.«
Stöhnend schnitt Joanna eine Grimasse. »Das klingt ja schrecklich!«
»Gewiss. Aber missversteh mich nicht – es ist eine faszinierende Welt, viel jünger und unberechenbarer als Akora. Und ich bin so froh, dass ich hier bin.«
»Darüber freue ich mich auch.« Joanna umarmte ihre Schwägerin. Dann fuhr sie unvermittelt fort: »Das Baby, das meine Mutter verloren hat, ist ein Mädchen
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