Insel meiner Sehnsucht Roman
eine fließende Robe im akoranischen Stil trug, betrat das Zimmer. Um ihre hellblauen Augen zogen sich feine Fältchen, die ihr heiteres Wesen verrieten. Ihr Gesicht war leicht gebräunt. Dazu bildete ihr schneeweißes Haar – zu einem Zopf geflochten, der den Kopf umgab und am Rücken hinabhing – einen faszinierenden Kontrast.
»Guten Morgen, Lady Joanna«, grüßte Elena. »Wie gut, dass Sie im Bett geblieben sind!«
»Dank Ihrer strengen Anweisungen würde ich's gar nicht wagen, aufzustehen.« Joanna lächelte die Begleiterin der Frau an. »Kennst du Brianna, Elenas Nichte, Kassandra?«
Sobald die Akoranerinnen hereingekommen waren, hatte sich Kassandra erhoben. In der Gegenwart der Heilkundigen, der sie großen Respekt zollte, konnte sie unmöglich sitzen bleiben. Von Elenas Nichte wusste sie nichts, was sie verblüffte. Sie hatte geglaubt, sie wäre allen Menschen begegnet, die in irgendeiner Verbindung mit dem Palast standen, wenn auch nur durch verwandtschaftliche Bande.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Brianna bediente sich der üblichen Floskel, mit der man eine neue Bekanntschaft schloss.
Sie war etwas größer als Kassandra, mit feuerrotem Haar, das ihrer hellen Haut und den fein gezeichneten Zügen schmeichelte. In ihren dunkelgrünen Augen glänzten goldene Pünktchen. Ihr Blick strahlte Klugheit aus – und noch etwas, das Kassandra nicht zu definieren vermochte. Vielleicht einfach nur mädchenhafte Scheu?
»Leider konnte ich Sie bei Ihrer Ankunft nicht begrüßen, Prinzessin, weil ich mich erkältet hatte und das Bett hüten musste«, fuhr Brianna fort. »Und bevor ich nicht genesen war, wollte ich niemanden anstecken.«
»Ich fürchte, unser englischer Frühling ist Brianna nicht gut bekommen«, sagte Joanna freundlich.
»Am Wetter hat's nicht gelegen«, entgegnete Elena, »eher an den vielen Stunden, die sie in Ihrer ungeheizten Bibliothek zubrachte. Ich versprach meiner Schwester, auf Brianna zu achten, wenn sie mich als meine Gehilfin hierher begleiten würde. Offenbar habe ich meine Pflicht vernachlässigt.«
»Oh nein, für meine Krankheit war ich selbst verantwortlich«, widersprach Brianna. »Meine Familie besitzt einen Bauernhof auf Leios.« So hieß die westliche der beiden Hauptinseln, die zusammen mit drei kleineren Akora bildeten. »Nur mein Vater und mein ältester Bruder reisen regelmäßig in die königliche Stadt Ilius. Wir Frauen fahren nur selten hin. Das letzte Mal sah ich den Palast, als ich ein kleines Kind war und meine Adoption registriert wurde. Welch ein aufregendes Erlebnis, mich so weit von daheim zu entfernen – ich war völlig überwältigt.« Daran zweifelte Kassandra. Sie vermutete eher, Brianna hätte stille Zufriedenheit empfunden, weil ein Traum Wirklichkeit geworden war.
Bei ihrem Anblick hatte sie sofort gewusst, dass das Mädchen nicht auf Akora zur Welt gekommen war. Mit ihrem roten Haar und dem blassen Teint unterschied sich Brianna von den zumeist schwarzhaarigen, dunkelhäutigen Inselbewohnern.
»Sind Sie eine Xenos gewesen?«, fragte Kassandra leise.
Brianna nickte. Eigentlich müsste sie das Wort kränken, denn so bezeichnete man alle Fremden, und die Xenos gehörten zu einem der sorgsam gehüteten Geheimnisse von Akora. Doch sie berichtete unbefangen: »Nach einem heftigen Unwetter wurde ich gefunden. Ich war an Bord eines Schiffs gewesen, das der Sturm zerstört hatte. Unglücklicherweise gab es sonst keine Überlebenden.«
»Und Ihre Eltern?«
»Sie sind ertrunken. Sobald ich das Bewusstsein wiedererlangte, stellte sich heraus, dass ich aus England stammte, denn ich drückte mich in dieser Sprache aus. Man zog Erkundigungen nach etwaigen Verwandten ein, ohne Erfolg.«
»Hoffen Sie, Familienmitglieder aufzuspüren, während Sie sich hier aufhalten?«
In Briannas Augen flackerte ein sonderbares Licht. Wehmut? Sehnsucht? Doch sie antwortete: »Diese Suche wäre sinnlos, denn ich habe keinen Grund, an die Existenz von Angehörigen zu glauben. Außerdem bin ich jetzt eine Akoranerin.«
Mehr muss man nicht dazu sagen, dachte Kassandra. Obwohl die Akoraner dem Rest der Welt ein abweisendes Gesicht zeigten und nur sehr begrenzte Kontakte zuließen, nahmen sie jeden Xenos , der ihr Land erreichte, freundlich auf. Schon vor langer Zeit hatte das Inselvolk erkannt, dass es frisches Blut brauchte, um zu überleben. Und kein Xenos wollte Akora verlassen, nachdem er sich dort eingelebt hatte. Alle wurden Akoraner, so wie Brianna.
Und wie wäre
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