Insel meiner Sehnsucht Roman
Natürlich würde ihr Bruder, der sie so gut kannte, deutlich spüren, dass sie etwas bedrückte – vor allem nach ihrem Gespräch mit Royce am vergangenen Tag. Trotzdem fiel es ihr schwer, über Dinge zu sprechen, die sie tief in ihrem Herzen verborgen hatte.
Eine Zeit lang starrte sie in ihren Tee, bevor sie fragte: »Alex – du weißt es doch, nicht wahr? Was ich sehe, ist nur eine mögliche Zukunft von mehreren.«
Geduldig nickte er. »Ja, das verstehe ich.«
»Nichts ist in Stein gemeißelt. Unser Schicksal bestimmen wir selbst. Wir müssen einfach nur den richtigen Weg wählen und …«
»… und andere daran hindern, Wegen zu folgen, die uns schaden würden.«
»Genau. Letztes Jahr sah ich in einer Vision, wie die Briten in unser Königreich eindrangen und es eroberten. Da hast du, gemeinsam mit Atreus, keine Zeit verschwendet, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen.«
»Gewiss, Royce hat uns unterstützt.« Alex sprach in ruhigem Ton. Seine Hand, die auf dem Tischtuch aus blütenweißem Damast lag, ballte sich, und er schien zu ahnen, was sie ihm sagen wollte.
Um sich zu beruhigen, holte sie tief Atem. »Die Tagträume sind zurückgekehrt. Wie oder warum kann ich dir nicht erklären, denn so etwas ist nie zuvor geschehen. Aus irgendeinem Grund hat sich der Weg in diese besondere Zukunft
wieder geöffnet.«
»Hast du Atreus darüber informiert?«
»Nein, er hat ohnehin schon gezögert, mir die Reise nach England zu gestatten. Wenn er wüsste, dass die Briten uns immer noch bedrohen, hätte ich Akora niemals verlassen dürfen.«
»Es sieht dir gar nicht ähnlich, dein eigenes Urteil über das deines Bruders zu stellen, der – wie ich dich erinnern möchte – zugleich dein Vanax ist.«
Ohne mit der Wimper zu zucken akzeptierte sie den Tadel, den sie verdiente. Doch sie hätte nicht anders handeln können. »Natürlich hätte ich ihm von meinen Visionen erzählt – wäre meine Fahrt nicht lebenswichtig gewesen.«
»Warum? Was kannst du hier ausrichten, was ich nicht ebenso gut schaffen würde?«
»Das weiß ich nicht. Seit meiner Ankunft hoffe ich, das herauszufinden. Aber es gelingt mir nicht. Nur eins weiß ich – ich musste nach London kommen.«
Alex schwieg eine Weile. Schließlich erwiderte er: »Also gut, ich glaube, ich verstehe deine Beweggründe. Und nun sollten wir überlegen, was deine Fantasiebilder bedeuten.«
Da sie seit der Rückkehr ihrer Visionen nichts anderes getan hatte, zögerte sie nur kurz. »Vielleicht bedeuten sie, dass Deilos nicht tot ist.«
»Also hast du ihn gesehen?«
»Nein. Aber letztes Jahr versuchte er, die Briten zu veranlassen, in unser Königreich einzudringen. Er hoffte, dann könnte er die Position des Vanax übernehmen, weil sich die Akoraner gegen Atreus stellen und ihn vom Thron stoßen würden. Offenbar nahm er an, er würde die Briten nach ihrer Invasion besiegen. Nun, da hat er sich getäuscht.«
»Er ist ertrunken.«
»Aber seine Leiche wurde nie gefunden«, wandte Kassandra ein.
»Nichts weist darauf hin, dass die umstürzlerische Bewegung, die Atreus an den dringend nötigen Reformen hindern soll, immer noch existiert – ganz egal, ob der Verräter am Leben ist oder nicht.«
»Das weiß ich. Allerdings musst du bedenken – Deilos und seine Anhänger haben es geschafft, Royce neun Monate lang auf Akora gefangen zu halten, und niemand ahnte auch nur das Mindeste von der Anwesenheit eines britischen Adligen. Hätten sie ihn benutzt, um den Zorn der Engländer über die grausame Behandlung ihres Landsmanns zu erregen, wären wir beide jetzt nicht hier.«
»Ja, das ist wahr«, gab Alex langsam zu.
»Außerdem – selbst wenn Deilos tot und die Revolte beendet wäre, stehen auf der anderen Seite immer noch Leute, die glauben, Atreus würde die Reformen nicht schnell genug durchführen. Bis jetzt begnügten sie sich mit kleineren Demonstrationen. Trotzdem haben sie die Aufmerksamkeit der Bevölkerung erregt, und möglicherweise werden sie Mitstreiter finden. Beide Parteien könnten meine Tagträume heraufbeschworen haben.«
»Davon muss Atreus erfahren.«
»Gewiss«, stimmte Kassandra zu. »Aber nun bin ich in London, und unser Bruder ist klug genug, um mir einen längeren Aufenthalt zu gestatten – wenigstens, bis wir der Sache auf den Grund gehen.«
Alex wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. »An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher.«
»Immerhin respektiert er deine Meinung, und du könntest ein gutes Wort für mich
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