Inseln im Wind
war es nasskalt. Der ständige Nieselregen und der eisige Februarwind vertieften nachhaltig Williams Wunsch, England so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Seine Bemühung um eine verbindliche Gesetzgebung für die Sklavenhaltung war nicht der eigentliche Zweck seiner Reise gewesen, dieser war längst erfüllt: Nach dem Tod seiner Großmutter hatte er sich um die Abwicklung des Nachlasses kümmern müssen. In weniger als drei Wochen hatte er für den Familiensitz einen Käufer gefunden und die Wertgegenstände veräußert. Mehr war – abgesehen von einigen nebensächlichen geschäftlichen Transaktionen – nicht zu tun gewesen.
Er schlug seinen Kragen hoch und bemühte sich heldenhaft, seinem Frieren nicht durch hörbares Zähneklappern Ausdruck zu verleihen, während er mit raschen Schritten der Mietkutsche zustrebte, die auf der anderen Straßenseite wartete. Die Kälte war das Schlimmste, fand er. Wie konnten die Menschen das auf Dauer ertragen?
Er hatte England gründlich satt. Heimatgefühle waren kein einziges Mal aufgekommen – wie denn auch, wenn er sich doch kaum an die Zeit erinnern konnte, als er noch hier gelebt hatte? Er wusste nicht einmal, ob er drei oder vier Jahre alt gewesen war, als seine Eltern mit ihm in die Karibik gesegelt waren.
Er hatte nur ein Zuhause – Barbados, die Insel im Wind.
4
E lizabeths Cousine Felicity blätterte in den Aufzeichnungen eines gewissen Richard Hakluyt. Von manchen Passagen war sie so mitgerissen, dass ihr vereinzelt Ausrufe entwichen, sei es vor Entsetzen oder vor Begeisterung.
» Oh Gott, Lizzie, stell dir vor, nicht weit von Barbados gibt es eine Insel, auf der Menschenfresser leben! Was tun wir, wenn sie heimlich auf Barbados einfallen, weil ihnen das Essen ausgegangen ist?«
Elizabeth, die den Hakluyt und diverse andere Reiseberichte bereits mehrmals gelesen und sich diese Fragen auch schon gestellt hatte, legte ihre eigene Lektüre – ein tödlich langweiliges Traktat mit dem Titel Leitfaden für die junge Braut – zur Seite und erhob sich aus ihrem Lehnstuhl, um ans Fenster zu treten.
» Das tun sie nicht. Vor denen müssen wir uns nicht fürchten. Robert hat erzählt, dass sie es nicht wagen, nach Barbados überzusetzen. Außerdem ist es ein ganz schönes Stück zwischen Barbados und den Inseln, auf denen die Wilden leben. Das ist viel zu weit für sie.«
Sinnend blickte Elizabeth aus dem Fenster. Der Himmel war trüb und verhangen, doch im Osten klarte es auf. Sie konnte heute noch ausreiten – der Wind würde ihr die unerwünschten Gedanken aus dem Kopf treiben.
» Oh, Lizzie, ich bin so aufgeregt!« Felicity legte den Hakluyt weg und gesellte sich zu Elizabeth ans Fenster. » Noch zwei Tage! Dann ist es so weit! Freust du dich nicht?«
Wieso zwei Tage? Es sind doch noch drei, wollte Elizabeth einwenden, doch dann begriff sie, dass Felicity nicht die Abreise, sondern die Hochzeit meinte. Elizabeth verdrängte indessen beides nach Kräften, den Aufbruch sowie die Heirat. Die Vorstellung, in wenigen Tagen eine Ehefrau zu sein und mit ihrem Gatten über den Ozean zu fahren, hatte für sie etwas erschreckend Endgültiges. Sie vermisste ihren Vater jetzt schon, und allein bei dem Gedanken, ihn lange Zeit nicht mehr zu sehen – vielleicht sogar nie mehr! –, zog sich ihr Inneres zusammen. Die Erlaubnis, ihre Cousine mitzunehmen, stärkte zwar ihre Zuversicht, aber die Angst vor dem bevorstehenden Abschied nahm sie ihr nicht.
Felicity tänzelte um das Hochzeitskleid herum, das an der Wand hing, ein Prachtstück aus heller Seide, mit engem Mieder, bestickten Puffärmeln sowie einem Reifrock, der den Stoff luftig nach allen Seiten schwingen ließ.
» Du wirst wie eine Märchenfee aussehen! Und auch wie eine riechen!«
Sie schnupperte an dem Stoff, den die Näherinnen vor dem Zuschneiden wochenlang um duftende Blütensäckchen gewickelt hatten. Dann flatterte sie weiter, zuerst zu den Schuhen, die mit Perlenstickerei und Silberschnallen verziert waren. Als Nächstes begutachtete sie den Haarschmuck, ein Band aus Lapislazuli, das, auf blauem Samt gebettet, mit ihren Augen um die Wette glitzerte. Sie betastete den Schleier und die Strümpfe sowie das weiße Unterkleid und kommentierte enthusiastisch jedes noch so nebensächliche Detail, obwohl sie schon vorher alles mindestens dreimal genauestens untersucht hatte. Felicitys Begeisterung für alles, was mit der anstehenden Hochzeit zusammenhing, war grenzenlos, auch wenn es, was der Viscount
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