Inselwaechter
bisher kein Thema. Noch nie gab es eine Zeit, in welcher dieses Lustprinzip einen derart hohen Stellenwert in einer Gesellschaft hatte. Wir verfügen durch die von unserem Wirtschaftssystem, dem Konsumkapitalismus, bereitgestellten Mittel über die Möglichkeit, unsere Wünsche schnell zu befriedigen. Unsere Eltern und Großeltern haben von diesem Überfluss an leiblichen, kulturellen Genüssen nicht einmal träumen können. Unterhaltung, Wellness, Komfort, Essen und Trinken – vierundzwanzig Stunden am Tag. Reisen. In wenigen Jahren werden wir Ausflugstrips in den Weltraum unternehmen können. Dazu haben wir eine hohe Lebenserwartung und leben in einer freien Gesellschaft, in der Zwänge durch Religionen, Traditionen und Konventionen nicht mehr den Druck ausüben wie noch vor einigen Jahrzehnten. Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft.«
Lydia Naber bestätigte: »Ja. Wenn ich Ihnen so zuhöre, muss ich sagen, das stimmt. Aber … ich habe den Eindruck, dass das öffentliche Gejammer und Gewinsel noch nie so laut und penetrant war wie gerade zurzeit. Da passt doch etwas nicht zusammen.«
»Das ist Ihre Art der Wahrnehmung«, meinte Claire Wilms lächelnd.
Sie fuhr fort:
»Wir leben in einer Umwelt, deren Medien uns ständig anmachen: Anzeigen, Werbung, Marketing. Unsere gierigen Triebe werden dadurch entfesselt und die Protagonisten der Anmachsparte sprechen Klartext. Sie nennen ihre Taktik: Guerilla-Marketing, Content-Marketing, Neuro-Marketing, Ambush-Marketing. Sie lauern uns auf, wo immer unser Ich schwach ist, schleichen sich an und pflanzen uns Wünsche ein. Infizieren uns mit Begehren, überfallen uns, dringen in uns ein wie ein Virus. Die moderne Hirnforschung liefert ihren Teil an waffenfähigem Material, um dafür zu sorgen, dass sich Wünsche, Lüste und Träume noch besser einnisten können und unsere Vernunft niederhalten. Unser Ich, das uns so unangenehme, disziplinierende Verhaltensweisen wie Mäßigung, Verzicht, Arbeit, Leistung und Sparen vermitteln will, wird niedergehalten, bekämpft, betäubt, wehrlos gemacht. Im Licht des modernen Marketings glänzt alles, ist gülden, jung, gesund, attraktiv – ein Paradies.
»Ein Paradies auf Erden«, bestätigte Lydia Naber.
»Tja. Aber schon sind wir mitten im Problem. Wir können genießen und dem Lustprinzip huldigen – und sind doch nicht glücklich. Jedenfalls nicht so, wie wir es sein müssten, gemessen an unserem materiellen Reichtums. Es geht uns meist so wie dem Fischer un sin Fru. Die Ansprüche wachsen im gleichen Maße, wie die mühelose Verfügbarkeit materieller Güter steigt. Anders ausgedrückt: Wir kriegen den Kragen nicht voll. Und trotz allem beobachten wir, dass das Leben vieler Menschen verödet. Hedonismus als Selbstzweck ist nicht ausreichend, um unserem Leben Glück und einen Sinn zu geben, um es als erfüllt zu empfinden.«
»Und da hilft nun die Glücksforschung, nehme ich an.«
»Korrekt. Die Glücksforschung produziert immer neue Glückserkenntnisse. Wir nennen diese Glücksforschung heute positive Psychologie. Es war mal ein wirklich interessanter Ansatz, hat sich aber inzwischen zu einer Fabrikation von Lebensrezepten gewandelt und erlebt einen regelrechten Boom. Mit einer Prise Boshaftigkeit könnte man einen Teil der Produkte so benennen: simplify alles rundherum, oder Werde so, wie du bist, gefolgt von Titeln wie Du bist, wer du bist, oder Sei was du schon immer sein wolltest, und du kannst es wollen, wenn du nur willst. Es ist ein bisschen so wie bei den Horoskopen in den Frauenzeitschriften im Vergleich zur wissenschaftlich ernsthaften Astrologie, die ja durchaus existiert, ohne jetzt eine sachliche Wertung geben zu wollen. Die positive Psychologie hat das Versprechen in die Welt gebracht, dass das Glück auf direktem Wege erreichbar, verfügbar sei. Das führt aber in die sogenannte Glücksfalle, wie ich meine, denn wir werden auf diesem Wege nur noch unglücklicher, weil wir an unseren Unzulänglichkeiten nur scheitern können. Unser Verlangen und Begehren nach Glück scheitert an dem Versprechen, es gäbe eine Methode, ein Mittel, einen Weg zum persönlichen Glück. Man könnte von der Behauptung sprechen, Glück sei erlernbar, wie etwa das Spielen eines Instrumentes. Und wenn sich das Glück nicht einstellt, dann tritt unsere Unvollkommenheit umso stärker in den Vordergrund.«
»Und auf diesem Gebiet forschen Sie als Psychotherapeutin?«
»Nein. Ich habe zuerst Medizin studiert, dann noch Psychologie.
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