Inselwaechter
Ich war in einigen Kliniken als Psychiaterin beschäftigt und habe mich mit dieser Thematik auseinandergesetzt.«
»Wo kommt diese positive Psychologie her? Ich gehe mal davon aus, von Psychologen.«
»Von einem gewissen Martin Seligmann. Er hat vor beinahe zwei Jahrzehnten den spannenden Ansatz verfolgt, sich als Psychologe nicht nur mit den Ursachen des seelischen Unglücks zu beschäftigen, sonder auch mit der Frage, wie Menschen glücklich sein können – die positive Psychologie war auf der Welt.«
»Na ja. Glück ist ja wirklich so eine Sache. Für jeden bedeutet es etwas anderes. Sie sind vom Fach. Wie beschreiben Sie das Glück?«
»Oh je. Der Glücksforscher David Myers nennt das Glück als die anhaltende Wahrnehmung des eigenen Lebens, als erfüllt, sinnvoll und angenehm.«
»Klingt schön. Und wann ist man nun glücklich?«
Claire Wilms nahm ihre Hände aus dem Schoß, legte die Fingerspitzen aufeinander und formte ein Dach. »Andersherum ist es wohl einfacher: Glückliche Menschen haben realistische Ziele und Erwartungen, eine hohe Selbstachtung, eine positive, optimistische Lebenseinstellung und begegnen anderen Menschen offen und interessiert. Sie können auf ein festes Netz aus Freunden und Bekannten zurückgreifen und sie haben das Gefühl, ihr Leben selbst kontrollieren zu können. Vor allem machen sie eines – sie gehen achtsam durch ihren Alltag.«
Lydia Naber war ganz in Gedanken des letzten Satzes und wiederholte stumm das schöne Wort achtsam. »Das klingt ja sehr nach gesundem Menschenverstand und weniger nach Psychologie.«
»Da haben Sie nicht unrecht, aber selten kann der gesunde Menschenverstand es auf so anschauliche Weise in Worte fassen – das ist dann Psychologie.«
Lydia Naber lachte. »Also Glücksratgeber werden auf solche Menschen nicht wirken.«
»Na ja. Jedenfalls werden Menschen diesen Glücksrezepten nicht vorbehaltlos gegenüberstehen, sie nicht als Kochzettel für ihren Lebensentwurf nehmen.«
»Was sind denn solche Rezepte?«
»Ach, herrje! Da muss ich nun selbst überlegen. Zum Beispiel, vor dem Einschlafen darüber nachdenken, was gut an diesem Tag war, oder jeden Tag zu meditieren, eine Viertelstunde Yoga zu machen, jemand anderem freiwillig helfen – praktizierte Dankbarkeit. In Bewegung bleiben – jeden Tag dreißig Minuten Aktivität. So etwas eben. Alles keine verwerflichen Dinge und für sich genommen durchaus annehmbar. Als rezeptiertes Konzept, als ein Schema für den Weg zum Glück jedoch untauglich. Ganz fürchterlich finde ich diese Smileys, die manche in ihrer Wohnung anbringen. Diese lachenden runden Fragmentgesichter, die man von Mails her kennt, nur in Großdruck. Die sollen einem sagen: Hey, du bist gut drauf, es geht dir gut. Dann noch an jedem Morgen mit einem Lächeln vor den Spiegel treten.«
Lydia Naber winkte ab. »Das wäre bei mir völlig aussichtslos. Wenn ich das von mir verlangen würde, wäre der ganze Tag schon im Eimer. Aber das sind doch alles Luxusprobleme, oder?«
»Keineswegs. Es gibt da einen höchst problematischen Hintergrund. Die Statistiken der Krankenkassen belegen, dass wir trotz unserer materiellen Sicherheit einen starken Anstieg der psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu verzeichnen haben. Da liegen alarmierende Zahlen vor, denn es handelt sich dabei nicht um Langeweilewehwehchen oder Befindlichkeitsstörungen hysterischer Personen.«
»Und aus diesem Bereich stammt nun Ihr Aufgabenbereich bei Grohm & Sebald.«
»Nein, nein. Das war mein Aufgabengebiet. In meiner jetzigen Tätigkeit habe ich es mit Kunden aus der Wirtschaft zu tun.«
Lydia unterbrach sie: »Sie haben also die Seiten gewechselt?«
»Gar nicht, nein. Agnes Mahler hat mich geholt, um mit ihr Konzepte für Unternehmen zu entwickeln, die ihre Leistungsträger und Führungseliten als Kapital erkannt haben und sich Hilfestellung im Umgang mit diesen wertvollen Menschen erwarten – Wissensträger, Motivatoren, informelle Führer …«
»Was ist der Unterschied zu Ihrer bisherigen Arbeit?«
»Die Bezahlung, ganz eindeutig. Es sind völlig andere Welten.«
Lydia lehnte sich zurück. Die Antwort hatte ihr gefallen. Ihr war diese Claire Wilms sympathisch.
»Welche Aufgabe hatte Agnes Mahler bei Grohm & Sebald?«
»Sie arbeitete daran, soziopsychologische Konzepte in die Führungsetagen großer Unternehmen zu bringen.«
»Ich dachte, das sei die Aufgabe von Doktor Grohm? Und ist das denn erforderlich? Ich meine, Grohm und Sebald, das
Weitere Kostenlose Bücher