Inside Aldi & Co.
sind riesig! Es ist schön zu sehen, dass nicht alle Discounter genau gleich gestrickt sind wie Aldi. Das fängt schon bei der Zeiterfassung an. Früher musste ich vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn und nach Arbeitsende noch unentgeltlich arbeiten. Die Zeiten wurden vom Filialleiter manuell in den PC eingetragen. Je weniger dort steht, desto mehr Leistungsprämie bekommt er von Aldi bezahlt. Dies ist bei Lidl deutlich besser gelöst. Vor Arbeitsbeginn und nach Arbeitsende erfasst jeder Filialmitarbeiter selbständig seine Arbeitszeit per Chip an einem Zeiterfassungsterminal. Das Gleiche gilt für die tatsächlich gemachte Pausenzeit. Es wird einfach nicht ständig getrickst, sondern korrekt gearbeitet. Dadurch gibt es auch nicht die ständige Missgunst der Mitarbeiter untereinander.
In der Mitarbeiterüberwachung hat Lidl reagiert. Es gibt in der kompletten Filiale keine Kameras mehr. Auch beim Datenschutz hat sich einiges getan. Die einzelnen Kassiergeschwindigkeiten zum Beispiel tauchen bei Lidl weder auf der Kassenabrechnung noch im Filial- PC auf und sind somit nicht transparent. Einzig die durchschnittliche Geschwindigkeit aller Kassierer eines Tages ist ersichtlich. Bei Aldi wird der Wettkampfgedanke untereinander angekurbelt, auch zwischen den Filialen, indem monatlich die Leistungen in Form einer Liste an jede Filiale gesendet werden. Ich habe selbst mitbekommen, wie dadurch Filialleiter unter Druck gesetzt werden und die Zahlen über Stundenmanipulation dann ‹tunen›. Bei Lidl wird für jede Filiale ein eigenes Leistungsziel gesetzt, das nur das Personal der betreffenden Filiale kennt. Somit fällt die ständige Konkurrenz mit anderen weg. Diese Ziele sind aber realistisch und mit normaler Arbeit, ohne diesen extremen Druck erreichbar. Ich kann heute nur sagen, was ich nie geglaubt hätte: Ich bin richtig froh, nicht mehr bei Aldi, sondern jetzt bei Lidl zu sein!»
Auch höhergestellte Mitarbeiter bestätigen die Verbesserungen. Ein Verkaufsleiter aus Hamburg zum Beispiel berichtet:
«Der extreme Druck ist weg. Die Mitarbeiter sind nicht mehr so gehetzt. Wir haben auch mal Zeit für ein längeres Gespräch. Für uns Führungskräfte gibt es viele Coachings. Ich höre auch von vielen langjährigen Kollegen bundesweit, dass sie den Laden seit einiger Zeit nicht mehr wiedererkennen. Wir haben jetzt sogar, früher undenkbar, jedes Jahr ein Sommerfest und eine Weihnachtsfeier. Lidl zeigt: Man kann was machen!»
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Coda: Der andere Kassierer
Benjamin Piep oder: «Guter Service kostet eben»
Viele Fälle und Schilderungen in diesem Buch halte ich für repräsentativ. Sie zeigen, wie es bei Aldi und ähnlichen Unternehmen zugeht, sie zeigen, wie es um unsere Wirtschaft heute vielerorts bestellt ist. Um dem Vorwurf gerecht zu werden, über Einzelfälle zu berichten, möchte ich es endlich einmal tun.
Bühne frei für Benjamin Piep. Sein Rechtsanwalt und sein Zahnarzt sind schon ein wenig neidisch. Sie haben ein aufwendiges, langwieriges Studium hinter sich. Sie beschäftigen Mitarbeiter. Sie tragen Verantwortung und müssen viel arbeiten. Im Gegensatz zu ihm. Trotzdem nimmt er, wie sie, 200 Euro pro Arbeitsstunde. «Guter Service kostet eben», sagt Piep stolz. Er war Verkäufer bei Aldi und der wohl teuerste und frechste Aldi-Kassierer Deutschlands. Ihn an seinem Arbeitsplatz anzutreffen, erforderte großes Glück. Er war so selten da, erklärt Piep. Die von Timothy Ferriss postulierte Vier-Stunden-Arbeitswoche erscheint ihm noch recht üppig bemessen. Wenn Piep arbeitete, ging alles langsamer als bei den Kollegen. Er räumte Ware gemächlich ein, seine Kasse piepte auf halbmast, er wirkte gelangweilt. Auf die üblichen Höflichkeitsfloskeln gegenüber Kunden verzichtete er, Piep hatte seine eigenen Regeln entwickelt.
Dabei waren die Weichen für eine Aldi-Karriere gestellt. Am 1 . August 2006 begann der heute 26 -Jährige seine Ausbildung beim Discounter und schloss drei Jahre später als Einzelhandelskaufmann mit der Note «sehr gut» ab. Im Betrieb wurde er sofort in Vollzeit und unbefristet übernommen – auch damals eine Seltenheit. Seine Chefs arbeiteten den Hoffnungsträger ein. Er sollte Filialleiter werden. Ihm stünden alle Türen offen, hieß es. Piep selbst hätte damals, noch hoch motiviert, «jeden erwürgt», der etwas gegen Aldi sagt. Aber das änderte sich. Wie und weshalb genau, weiß Piep selbst nicht zu erklären. Irgendwann ist es passiert. Seine Vorgesetzte,
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