Inspector Alan Banks 06 Das verschwundene Lächeln
allmählich Zeit für ihn, kürzer zu treten und sich seinen Büchern und seinem Garten zu widmen, so wie es der weise alte Römer Virgil empfohlen hatte.
Er setzte einen Stein ein und stand dann auf, wobei er deutlich das Knacken in seinen Knien und den Schmerz seiner Bandscheiben spürte. Er hatte zu lange an der Mauer gearbeitet. Warum er sich die Mühe überhaupt machte, wusste nur Gott allein. Schließlich führte sie nirgendwo hin und umzäunte nichts. Sein Großvater war ein meisterlicher Mauerbauer in den Dales gewesen, aber sein Talent hatte sich nicht an die nachfolgenden Generationen vererbt. Die Arbeit gefiel Gristhorpe wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem er das Angeln mochte: Es war eine Entspannung, bei der man abschalten konnte. In einem Zeitalter, in dem sich alles um den technischen Nutzen drehte, dachte er, brauchte der Mensch möglichst viel zwecklose Beschäftigung.
Vor wenigen Augenblicken war die Sonne untergegangen, im Norden hob sich die scharfe Linie von Aldington Edge vom Horizont ab und ließ den dunklen malvenfarbenen und violetten Himmel dadurch stärker hervortreten. Als Gristhorpe zur Hintertür ging, spürte er die Kälte in der leichten Brise, die seinen wilden grauen Haarschopf zerzauste. Es war Mitte September, der Herbst zog ins Tal.
Im Haus setzte er eine Kanne starken, schwarzen Tee auf, machte sich ein Sandwich mit Wensleydale-Käse und Gurke und ging dann in sein Wohnzimmer. Das Bauernhaus war ein massiver Bau aus dem achtzehnten Jahrhundert; die Wände waren dick genug, um auch dem schlimmsten Wintereinbruch in Yorkshire zu trotzen. Seit dem Tod seiner Frau hatte Gristhorpe das Wohnzimmer in eine Bibliothek umgewandelt. Er hatte seinen Lieblingssessel nahe an den Steinkamin gestellt und so viele dienstfreie Stunden lesend dort verbracht, dass die Hitze des Feuers das Lederpolster auf der einen Seite schon rissig gemacht hatte.
Den Fernseher, der seiner Frau so viel Freude bereitet hatte, hatte Gristhorpe Mrs Hawkins, seiner Haushälterin, gegeben; das alte Vitrinenradio hatte er jedoch behalten, damit er die Nachrichten, Cricketübertragungen und die Hörspiele hören konnte, die an manchen Abenden gesendet wurden. Zwei Wände waren vom Boden bis an die Decke mit Bücherregalen bestückt und über dem Kamin hing eine Reihe gerahmter Drucke aus Hogarths Zyklus »The Rake's Progress«.
Gristhorpe stellte seinen Tee und das Sandwich in Reichweite neben ein paar Büchern auf den kleinen, runden Tisch und machte es sich mit einem Seufzer in seinem Sessel bequem. Nur der Wind, der durch die Ulmen rauschte, und das Ticken der Uhr seines Großvaters in der Diele durchbrachen die Stille.
In den Ruhestand gehen oder nicht in den Ruhestand gehen, das war die Frage, die ihn davon abhielt, sofort Der Weg allen Fleisches zur Hand zu nehmen. Während der letzten Jahre hatte er den größten Teil der Ermittlungsarbeit an sein Team delegiert und selbst die meiste Zeit mit Verwaltung und Koordination zugebracht. Er besaß absolutes Vertrauen in Alan Banks, seinen Schützling, und sowohl Sergeant Richmond wie auch die erst jüngst zum Team dazugestoßene Constable Gay kamen gut zurecht. Sollte er seinen Platz zugunsten der Beförderung von Banks räumen? Alan zeigte auf jeden Fall solche Begeisterung und Interesse an der Arbeit, dass sich Gristhorpe oft daran erinnert fühlte, wie er selbst in seinen jungen Jahren gewesen war. Wie Gristhorpe hatte auch Banks nicht studiert, was ihm aber keinesfalls zum Nachteil gereichte. Banks war ein talentierter Ermittler, auch wenn er nicht gut mit Autoritäten klarkam, gelegentlich unbesonnen reagierte und eine Abscheu für innerpolizeiliche Angelegenheiten hatte, die immer mehr Raum einnahmen. Doch gerade dafür bewunderte ihn Gristhorpe. Er hasste diese Art Angelegenheiten ja selbst. Obwohl zwanzig Jahre jünger, war Banks ein Polizist alter Schule, ein Mann von der Straße. Außerdem besaß er Fantasie und Neugier, zwei Eigenschaften, die Gristhorpe für wesentlich hielt.
Und was sollte er mit seiner Zeit anfangen, wenn er in den Ruhestand trat? Da gab es natürlich die Natursteinmauer, aber die garantierte ihm kaum eine Vollzeitbeschäftigung. Das Lesen auch nicht, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass seine Sehkraft in letzter Zeit nachgelassen hatte. Er war in einem Alter, in dem jeder Schmerz und jedes kleine Wehwehchen mehr Angst in ihm weckte als früher und in dem Erkältungen sich in die Länge
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