Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
nicht, er war schon viel zu weit gegangen. Ihr letzter Eintrag datierte vom Tag, bevor sie starb.
5. November (Bonfirenacht)
Gestern hat mich Onkel Michael gepackt und meinen Arm festgehalten, bis es wehtat, und gesagt, ich hätte seine Seele gestohlen und noch allen möglichen anderen Quatsch. Ich weiß, dass es grausam von mir war, ihn zu reizen und mich von ihm küssen zu lassen und so weiter, aber am Anfang war es nur ein Spiel und er hat es mich nicht stoppen lassen. Ich will, dass er jetzt damit aufhört, denn es macht mir Angst, wie er mich anschaut. Wenn man ihn mit anderen Leuten sieht, würde man es immer noch nicht glauben, aber wenn wir allein sind, ist er wie ausgewechselt. Als hätte er eine gespaltene Persönlichkeit oder so. Ich habe ihm gesagt, dass er mir versprechen muss, mich in Ruhe zu lassen, sonst erzähle ich es morgen Daddy, wenn ich von der Schule komme. Keine Ahnung, ob ich das wirklich mache, denn ich weiß ja, wie er werden kann und was dann hier los ist. Der totale Ärger. Na ja, mal sehen, was morgen passiert.
Banks legte das Tagebuch zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. Durch die Ritzen der Jalousien schimmerte das Licht der Gaslaternen, die den Marktplatz säumten. Das Quartett näherte sich dem Ende des letzten Satzes, eine bewegende, introspektive Passacaglia, die Britten im Angesicht des Todes geschrieben hatte.
Warum sehen wir uns dazu gezwungen, unsere Gedanken und Gefühle in Tagebüchern und auf Tonbändern festzuhalten, fragte sich Banks, und unsere Taten auf Videofilmen und Fotografien? Vielleicht müssen wir über uns lesen oder uns betrachten, dachte er, um die Gewissheit zu haben, wirklich am Leben zu sein. Obwohl sie sich damit immer wieder in Schwierigkeiten bringen, führen Politiker Tagebücher, die zu tickenden Zeitbomben werden, und halten Triebtäter ihre Taten visuell fest. Und Gott sei Dank tun sie das! Ohne solche Beweismittel würden viele Fälle nicht einmal vor Gericht kommen.
Nachdem die Musik zu Ende war, saß Banks eine Weile still da und drückte dann seine Zigarette aus. Gerade als er losgehen wollte, um vor der Sperrstunde noch ein Bier zu trinken, klingelte das Telefon. Er fluchte und spielte mit dem Gedanken, es einfach klingeln zu lassen, doch sein Pflichtgefühl als Polizist und seine noch tiefer sitzende Neugier ließen ihn zum Hörer greifen.
»Banks.«
»Sergeant Rowe, Sir. Uns wurde gerade gemeldet, dass sich Owen Pierce im Pfarrhaus von St. Mary's befindet.«
»Wer hat angerufen?«
»Rebecca Charters, Sir. Die Frau des Pfarrers. Sie sagte, Pierce wäre bereit, sich für den Mord an Michelle Chappel zu stellen.«
»Aber die ist gar nicht tot.«
»Das weiß er wohl nicht.«
»In Ordnung«, sagte Banks. »Ich bin gleich dort.«
Er seufzte, nahm seine Jacke und eilte hinaus in die diesige Dunkelheit.
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