Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
meinte, es sei keine schlechte Idee, sich hin und wieder mal an einer Zigarette festzuhalten. Sie konnte ja aufhören, wenn sie glaubte, dass sie ihr übriges Leben in den Griff bekam.
»Also, warum sind Sie hergekommen?«, beharrte Lucy. »Ich will nicht neugierig sein, aber es interessiert mich. Wegen einem neuen Job?«
»Eigentlich nicht. Ich kann überall arbeiten.«
»Was machen Sie?«
»Ich bin Grafikerin. Ich illustriere Bücher. Hauptsächlich Kinderbücher. Im Moment arbeite ich an einer Neuausgabe von Grimms Märchen.«
»Ach, das hört sich ja toll an!«, staunte Lucy. »In Kunst war ich früher immer schlecht. Ich kann nicht mal ein Strichmännchen malen.« Sie lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Nun sagen Sie schon, warum sind Sie hier?«
Maggie kämpfte eine Weile mit sich, zögerte. Dann geschah etwas Seltsames. Sie hatte das Gefühl, in ihr würden sich Ketten und Riemen lösen, ihr Raum geben und ein Gefühl des Schwebens vermitteln. Da saß sie hier im Victoria-Viertel, rauchte und trank einen Cappuccino mit Lucy und empfand plötzlich eine unerwartet aufwallende Zuneigung für diese junge Frau, die sie kaum kannte. Maggie wollte sie zur Freundin. Sie malte sich aus, wie sie mit Lucy Probleme besprach, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie sie sich gegenseitig trösteten oder Ratschläge gaben, so wie es mit Alicia in Toronto gewesen war. Lucys Tollpatschigkeit, ihr naiver Charme weckte in Maggie eine Art instinktivem Zutrauen; da war jemand, bei dem sie sicher war, das fühlte sie. Ja, auch wenn Maggie die »Kultiviertere« von beiden sein mochte, spürte sie doch, dass sie mit Lucy mehr gemein hatte als auf Anhieb ersichtlich. Maggie konnte es nur schwer zugeben, aber sie hatte das dringende Bedürfnis, sich jemand anderem als ihrer Psychiaterin anzuvertrauen. Warum nicht Lucy?
»Was ist?«, sagte Lucy. »Sie schauen so traurig.«
»Ich? Ach ... nichts. Also, mein Mann und ich«, begann Maggie und stolperte über die Wörter, als sei ihre Zunge so groß wie ein Steak, »ich ... äh ... wir haben uns getrennt.« Sie merkte, dass ihr Mund trocken wurde. Trotz der gelösten Ketten war es doch weitaus schwerer, als sie sich vorgestellt hatte. Sie trank noch einen Schluck Kaffee.
Lucy runzelte die Stirn. »Das tut mir Leid. Aber warum so weit weg? Viele Leute trennen sich, deshalb ziehen sie aber nicht gleich in ein anderes Land. Es sei denn, er ist... ach, du meine Güte!« Sie gab sich einen Klaps auf die Wange. »Lucy, ich glaube, du bist mal wieder ins Fettnäpfchen getreten.«
Maggie konnte sich ein schwaches Lächeln nicht verkneifen, obwohl Lucy die schmerzhafte Wahrheit angedeutet hatte. »Schon in Ordnung«, sagte sie. »Ja, er war gewalttätig. Ja, er hat mich geschlagen. Man könnte behaupten, dass ich vor ihm davonlaufe. Das stimmt. Zumindest in nächster Zeit will ich nicht im selben Land sein wie er.« Die Heftigkeit, mit der diese Worte herauskamen, überraschte Maggie selbst.
Lucy bekam einen sonderbaren Gesichtsausdruck, dann schaute sie sich um, als suche sie jemanden. Unter dem Bleiglasdach der Einkaufspassage bummelten Passanten hin und her, Tüten in der Hand. Lucy berührte Maggies Arm mit den Fingerspitzen. Ein leichter Schauer überlief Maggie, fast hätte sie reflexartig den Arm zurückgezogen. Noch eben hatte sie gedacht, es täte gut, sich jemandem anzuvertrauen, ihre Erlebnisse mit einer anderen Frau zu teilen. Jetzt war sie davon nicht mehr vollends überzeugt. Sie fühlte sich nackt, ungeschützt.
»Tut mir Leid, wenn es Ihnen unangenehm ist«, sagte Maggie mit einer gewissen Schärfe. »Aber Sie haben mich gefragt.«
»Oh, nein«, entgegnete Lucy und umklammerte Maggies Handgelenk. Ihr Griff war überraschend fest, ihre Hände kalt. »Das dürfen Sie nicht denken. Ich habe Sie doch gefragt. Das mache ich immer. Ist mein Fehler. Aber es ist mir nicht unangenehm. Es ist nur ... Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ich meine ... Sie ? Sie kommen mir so klug vor, so beherrscht.«
»Ja, genau das dachte ich damals auch: Wie kann so etwas ausgerechnet mir passieren? Geht das nicht eigentlich nur anderen Frauen so, armen, weniger erfolgreichen, schlecht ausgebildeten, dummen Frauen?«
»Wie lange?«, fragte Lucy. »Ich meine ...«
»Wie lange ich mitgemacht habe, bevor ich abgehauen bin?«
»Ja.«
»Zwei Jahre. Und fragen Sie mich nicht, wieso ich so lange geblieben bin.
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