Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
sie dennoch überreagiert. Schließlich hatte er sie nur gefragt, ob sie verheiratet sei; eigentlich eine völlig harmlose Frage, die man einer Fremden bei einer Tasse Kaffee durchaus stellen konnte, aber sie hatte einen wunden Punkt bei Michelle berührt, verbotenes Terrain. Deshalb war sie unhöflich geworden. Jetzt bedauerte sie es.
Nun, sie war nicht verheiratet; das stimmte. Melissa war gestorben, weil sie und Ted sich nicht miteinander abgesprochen hatten. Michelle hatte observieren müssen und gedacht, Ted hole die Kleine nach der Schule ab; er hatte ein Meeting am Nachmittag und war davon ausgegangen, dass sie es tun würde. Welche Ehe konnte schon ein solches Trauma überstehen - Schuldgefühle und -Zuweisungen, Trauer und Wut -, ihre jedenfalls nicht. Fast auf den Tag sechs Monate nach Melissas Beerdigung hatten sie beschlossen, sich zu trennen, und Michelle war von einer Grafschaft in die nächste gezogen in der Hoffnung, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Im Großen und Ganzen war sie erfolgreich gewesen, aber ihre Ruhe hatte sie immer noch nicht gefunden. Der Schock saß tief.
Sie hatte weder Zeit für Männer noch Interesse an ihnen gehabt - auch das irritierte sie an der Begegnung mit Banks. Abgesehen von ihren Kollegen war er seit Jahren der erste Mann, mit dem sie längere Zeit verbracht hatte, und er gefiel ihr sogar, sie fand ihn attraktiv. Michelle wusste, dass man ihr in den letzten fünf Jahren auf mehr als einem Revier den Spitznamen »Eisprinzessin« gegeben hatte, aber sie nahm es nicht ernst; weiter daneben konnte man kaum liegen. Eigentlich war sie eine warmherzige, empfindsame Frau, aber diese Seite hatte sie lange ignoriert, vielleicht sogar geleugnet. Sie wollte sich bestrafen, hatte sich in ihren Schuldgefühlen verstrickt.
Sie wusste nicht, ob Banks verheiratet war, einen Ring trug er jedenfalls nicht. Und er hatte schließlich gefragt, ob sie verheiratet sei. Seine Frage war nicht nur aufdringlich gewesen, es war eine Anmache. Aber auch wenn der gesunde Menschenverstand dagegen sprach und sie noch so viele Mauern um sich errichtet hatte: Ein Teil von ihr wollte diesen Mann. Sie war vollkommen verwirrt, ihre Unentschlossenheit war ihr unerträglich. Banks war vielleicht einer der wenigen, der ihr helfen konnte, Graham Marshalls Vergangenheit zu rekonstruieren, aber würde sie Banks noch einmal ins Gesicht sehen können?
Sie hatte keine Wahl, begriff sie, als der Zug langsamer wurde. Michelle griff zu ihrer Aktentasche. Der Gedenkgottesdienst für Graham Marshall würde innerhalb weniger Tage abgehalten werden, und sie hatte versprochen, Banks anzurufen und ihm Bescheid zu sagen.
Es war fast dunkel, als Banks in den Weg einbog, der zu seinem kleinen Cottage führte. Er war müde. Als er nach dem Bier zurück zum Revier gefahren war, war Annie nicht mehr da gewesen. Eine gute Stunde hatte er sich beschäftigt, Papierstapel herumgeschoben und dann beschlossen, es gut sein zu lassen. Annie würde ihn schon darüber informieren, weshalb sie so übereilt aufgebrochen war.
Erinnerungen an die Obduktion von Lukes Leiche wurden in ihm wach. So ging es ihm auch oft mit abgeschlossenen Fällen. In den letzten Monaten hatte er mehr als einmal von Emily Riddle und den aus dem Boden ragenden Zehen der teilweise verscharrten Leichen geträumt, die er in einem Keller in Leeds gefunden hatte. Würde er Luke Armitage nun in seine Sammlung albtraumhafter Bilder aufnehmen müssen? Nahm das nie ein Ende?
Ein altes klappriges Auto stand vor dem Cottage. Banks parkte dahinter und holte seinen Hausschlüssel heraus. Das fremde Auto war leer - also kein Liebespaar auf der Suche nach einem einsamen Fleckchen. Vielleicht hatte jemand den Wagen dort einfach entsorgt, dachte Banks verärgert. Der Feldweg war fast eine Sackgasse. Knapp zehn Meter hinter Banks' Cottage begann der Wald, und die unbefestigte Straße verjüngte sich zu einem schmalen Fußweg. Da kam kein Auto durch. Das wusste natürlich nicht jeder, manchmal fuhren die Leute einfach weiter. Vielleicht sollte er ein Schild aufstellen ? Andererseits, dachte er, war es doch einleuchtend, dass es ein Privatweg war.
Plötzlich merkte Banks, dass in seinem Wohnzimmer Licht brannte und die Vorhänge zugezogen waren. Er wusste, dass er den Schalter am Morgen ausgeknipst hatte. Vielleicht waren es Einbrecher? Allerdings war es ziemlich laienhaft, in einer Sackgasse zu parken und das Auto noch nicht einmal zu
Weitere Kostenlose Bücher