Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Fast konnte sie sehen, wie sein Gehirn arbeitete, wie es Zusammenhänge herstellte, hier eine Abkürzung nahm und diese oder jene Information für später abspeicherte. »Wer dieses Pärchen auch ist«, sagte er schließlich, »wenn Wells Recht hat und die beiden geklaut haben, dann wissen wir, dass sie knapp bei Kasse sind. Das wäre wiederum ein gutes Motiv für eine Lösegeldforderung.«
»Ist das nicht reine Spekulation?«
»Ja«, gab Banks zu. »Nehmen wir mal an, sie haben sich mit ihm gestritten und am Ende war Luke tot. Vielleicht nicht mit Absicht, aber tot ist tot. Die Täter geraten in Panik, denken sich einen passenden Ort aus, fahren dahin und werfen Luke spät am Abend, im Schutz der Dunkelheit, in den Hallam Tarn.«
»Vergiss nicht, dafür brauchen sie ein Auto. Wenn sie pleite sind, haben sie vielleicht keins.«
»Vielleicht haben sie sich eins >geliehen«
»Wir können die Anzeigen wegen Autodiebstahl in der fraglichen Nacht durchgehen. Und wenn sie die Leiche noch so gut versteckt haben, wir könnten Blutspuren finden.«
»Gute Idee. Egal. Sie wissen, wer Lukes Eltern sind, und glauben, sie können ein paar Mäuse verdienen.«
»Was die niedrige Forderung erklären würde.«
»Genau. Es sind keine Profis. Sie haben keine Ahnung, wie viel sie verlangen sollen. Zehn Riesen sind für die ein Vermögen.«
»Aber sie beobachten Martin Armitage, als er das Geld hinterlegt, und da haben sie mich auch gesehen.«
»Das ist mehr als wahrscheinlich. Tut mir Leid, Annie. Vielleicht waren es keine Profis, aber dumm sind sie auch nicht. Sie wussten, dass sie das Geld nicht mehr holen konnten. Vergiss nicht, Lukes Leiche hatten die beiden schon entsorgt, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie gefunden würde. Das Pärchen konnte hoffen, dass sie durch das Benutzungsverbot der Wanderwege eine Weile unentdeckt bleiben würde, aber irgendwann würde jemand unweigerlich Hallam Tarn erkunden.«
Annie dachte nach. Sie hatte einen Fehler gemacht, sie hatte die Entführer verschreckt, aber da war Luke schon tot gewesen, sie war also nicht schuld an seinem Tod. Was hätte sie denn tun sollen? Sicher, sich von dem Unterstand fernhalten. Da hatte der Rote Ron schon Recht. Sie hatte vermutet, dass die Aktentasche Geld enthielt. Musste sie unbedingt wissen, wie viel? Sie hatte instinktiv gehandelt, und zwar nicht zum ersten Mal, aber jetzt war alles zu retten - der Fall, ihre Karriere. Alles wieder gutzumachen. »Hast du schon mal überlegt«, sagte sie, »dass sie vielleicht doch von Anfang an versucht haben, Luke zu entführen? Vielleicht hat sich das Pärchen deshalb mit ihm angefreundet. Und er musste sterben, weil er wusste, wer sie waren.«
»Ja«, sagte Banks. »Aber mir scheint zu viel übereilt, spontan, wenig durchdacht zu sein. Nein, Annie, ich glaube, sie haben einfach eine konkrete Situation ausgenutzt.«
»Warum haben sie Luke dann umgebracht?«
»Keine Ahnung. Das werden wir sie fragen müssen.«
»Wenn wir sie finden.«
»Oh, die finden wir schon.«
»Wenn das Mädchen das Bild in der Zeitung sieht, taucht sie vielleicht unter oder verändert ihr Aussehen.«
»Die finden wir. Es sei denn ...« Banks ließ die Worte in der Luft hängen und griff zu einer Zigarette. »Ja?«
»Wir müssen unvoreingenommen bleiben, was andere Ermittlungsrichtungen angeht.«
»Zum Beispiel?«
»Das weiß ich noch nicht. Da könnte was in Lukes unmittelbarer Umgebung sein. Ich möchte mich mit ein paar Lehrern unterhalten, die Luke gut gekannt haben. Irgendjemand sollte noch mal mit den Battys reden. Dann sind da noch die ganzen Leute, von denen wir wissen, dass sie an dem letzten Tag Kontakt mit Luke hatten. Stell eine Liste zusammen und sorg dafür, dass dir Jackman und Templeton helfen. Wir haben noch eine Menge vor uns.«
»Scheiße«, sagte Annie und stand auf. Ihr war wieder eingefallen, was sie noch erledigen wollte.
»Was ist?«
»Nur etwas, das ich schon längst hätte prüfen sollen.« Annie schaute auf die Uhr und verabschiedete sich. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Bis dann.«
Michelle lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Unter dem grauen Himmel huschten Felder vorbei, der Regen malte schmutzige Streifen an die Fenster. Wenn Michelle mit dem Zug fuhr, fühlte sie sich immer wie im Urlaub. An diesem Abend war das Abteil bis auf den letzten Platz belegt. Manchmal vergaß sie einfach, wie
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