Inspector Barnaby 03 - Ein Böses Ende
von beiden. Oder beides gleichzeitig. Sie versuchte sich einzureden, daß sie etwas falsch verstanden hatte oder die Worte aus dem Zusammenhang gerissen (viel hatte sie ja nicht gehört) eine ganz andere Bedeutung bekommen konnten. Aber worauf sollten das Wort »Obduktion« sich beziehen, wenn nicht auf Jims Tod? Diese Schlußfolgerung war sicher naheliegend.
In der Waschküche, beim Einfüllen ökologisch unbedenklicher, enzymfreier blaßgrüner Waschkügelchen, verfluchte May stumm den boshaften Luftgeist, der an diesem Morgen ihre Schritte gelenkt hatte. Im Einklang mit den anderen Kommunenmitgliedern hing sie der Überzeugung an, die Gestaltung und der Ablauf ihres Tages würde nicht von ihr selbst, sondern von den Sternen bestimmt, und sie konnte gewiß nicht behaupten, sie wäre nicht gewarnt worden. Phobos, Mond des Mars, hatte schon die ganze Woche seinen Einfluß auf sie ausgeübt.
Als sie die feuchten Berge farbenprächtiger Wäsche aus der Maschine nahm, bemerkte May die auffällige Diskrepanz zwischen der frischgewaschenen, fleckenlosen Perfektion und ihren eigenen dunklen Gedanken.
Einen Monat nach jenem Vorfall ereignete sich eine andere, beinah ebenso irritierende Begebenheit. Mitten in der Nacht wurde sie von einem leisen Knarzen in Jims Zimmer aufgeweckt, das neben ihrem lag. Kurz darauf knarzte es noch zweimal, als würde eine Reihe von Schubladen geöffnet und geschlossen. May hatte belauscht, wie sich jemand tags zuvor mehrmals dort zu schaffen gemacht hatte, sich dabei aber nichts gedacht. Ihrer Meinung nach hatte der Betreffende die traurige Aufgabe übernommen, Jims Sachen durchzugehen und auszusortieren. Dieses nächtliche Treiben hingegen war etwas ganz anderes. Sofort an Einbrecher denkend, hatte sie tapfer ihren dicksten Wälzer geschnappt (Neue Karten von Atlantis und deren intergalaktische Logoi), sich mit angehaltenem Atem den Flur runtergeschlichen, vorsichtig die Hand auf den Griff der Tür gelegt und versucht, diese zu öffnen. Sie war fest verschlossen gewesen.
Obwohl sie sich der Tür ganz leise genähert hatte, hörte May hektische Bewegungen. Trotz ihrer Furcht harrte sie aus, die Neuen Karten über dem Kopf haltend. Entgegen ihrer Erwartung ging die Tür nicht auf. Unentschieden, was sie als nächstes unternehmen sollte, spitzte sie die Ohren, hörte ein metallisches Knirschen, das sie an das Schiebefenster denken ließ. Sie eilte in ihr Zimmer zurück, doch bis sie das Buch weggelegt hatte und an ihr Fenster getreten war, war es schon zu spät. Das Fenster nebenan stand weit offen, und sie meinte einen Schatten, eine dunkle Bewegung am Ende der Terrasse auszumachen.
Dies veranlaßte sie, ihren Entschluß, sofort Alarm zu schlagen, nochmals zu überdenken. Wer immer das gewesen war, er war nicht in Richtung Straße und Außenwelt geflohen. Zu fliehen hätte niemanden vor größere Probleme gestellt, denn wie viele große elisabethanische Häuser lag auch Manor House nur unweit der Dorfhauptstraße. Vor ein paar Monaten hatten auf dem Grundstück Vandalen ihr Unwesen getrieben (Müll in den Teich geworfen, Glühbirnen kaputtgeschlagen), woraufhin die Lodge eine Halogenlampe angeschafft hatte, die sich nach Dunkelheit automatisch einschaltete, wenn sich eine Person oder ein Fahrzeug auf oder neben der Zufahrt bewegte. Diese Lampe ging nicht an.
Doppelt verunsichert ließ May sich auf ihrem Fensterplatz nieder und blickte in die wohlriechende Nacht hinaus. Die unterschiedlichen Gartendüfte und die am Himmel stehenden Sterne vermochten nicht, ihre Stimmung zu ändern. In diesem besonderen Augenblick litt sie unter extremer Einsamkeit. Nicht unter jener dunklen Verlassenheit, die sich gewöhnlich gegen vier Uhr morgens einstellt und wo man vom Zeitpunkt und den Umständen des eigenen Todes niedergedrückt wird. Ihre Einsamkeit war weniger gewichtig, aber genauso beängstigend. Sie hatte entdecken müssen, daß in ihrem Eden - auf Golden Windhorse empfand sie ein Glück, das keine andere Bezeichnung zuließ - eine Schlange hauste. Mit zwei Gesichtern, verschlagenem Herzen, doppelzüngig.
Um wen es sich dabei handelte, konnte sie noch nicht sagen, aber sie glaubte - nein, sie wußte -, daß die Person, die aus Jims Zimmer geflohen war, das Haus hinterher wieder betreten hatte. Ihr fielen wieder die aufgeschnappten Worte ein. Sie kam zu der Überzeugung, daß die beiden Dinge miteinander in Verbindung standen, rügte sich aber prompt für diese
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