Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
schreiend Bücher und Kleidung im Zimmer herumgeschmissen hatte, wie sie in die Nacht verschwunden war. Die schnelle Strömung des Flusses.
Heute würde Ann es Lionel sagen müssen. Sie musste es ihm einfach sagen. Er würde wissen wollen, wo Carlotta war. Doch ohne zu wissen, warum, war Ann klar, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagen konnte.
Nicht, dass er nicht ein ungeheuer verständnisvoller Mann gewesen wäre. Und alles zu verstehen bedeutete, wie sie sich schon so oft hatte anhören müssen, alles zu verzeihen. Er fand endlose und, wie sie meinte, manchmal ziemlich unsinnige Entschuldigungen für das Verhalten der jungen Leute, die er vorübergehend unter seine Fittiche nahm. Leute, denen die Gesellschaft nur grausame Gleichgültigkeit entgegengebracht hatte. Die Verzweifelten und Verlassenen, die Kriminellen und Fastkriminellen. Sie hatte (mit einer Ausnahme) immer versucht, sie in ihrem Haus willkommen zu heißen.
Ann zögerte, weil sie wusste, dass Lionel bitter enttäuscht von ihr sein würde. Sich sogar für sie schämen würde. Und das mit Recht. Was für eine Entschuldigung konnte es dafür geben, dass eine Frau von Ende Dreißig, die aus geordneten Familienverhältnissen stammte, der es finanziell gut ging und die in einem großen, schönen Haus lebte, auf ein armes Geschöpf losging, das bei ihr Zuflucht gefunden hatte, und es in die Nacht hinaustrieb? Bloß wegen einem Paar Ohrringe, von dem noch nicht mal sicher war, dass das Mädchen es entwendet hatte. Da gab es keine Entschuldigung.
Ann stand auf und versuchte ihre schmerzenden Glieder zu lockern. Sie schlüpfte in ihre rosanen Brokatpantoffeln, streckte die Arme zur Decke und senkte sie dann mit zuckenden Mundwinkeln auf die Zehenspitzen.
Lionel würde noch eine Weile schlafen. Er war letzte Nacht ziemlich spät nach Hause gekommen. Ann beschloss, sich einen Tee zu machen und sich damit in die Bibliothek zu setzen, um sich genau zu überlegen, was sie ihm sagen würde.
Sie zog gerade ihren Morgenrock über, als sie hörte, wie die Eingangstür aufging und ihre Haushaltshilfe rief: »Mrs. Lawrence? Hallo? Schöner Tag heute.«
Ann eilte auf den Treppenabsatz, zwang sich zu lächeln und einen Anklang von Wärme in ihre Stimme zu legen. Sie beugte sich über das Geländer und erwiderte den Gruß. »Guten Morgen. Hetty.«
Evadne Pleat aus dem Mulberry Cottage am Dorfanger hatte gerade ihre wichtigste Aufgabe des Tages beendet, nämlich die liebevolle Pflege ihrer sechs Pekinesen. Bürsten, baden, trimmen, füttern, entwurmen und Gassi gehen. Man hatte ihre Temperatur gemessen, die Halsbänder auf Sauberkeit und bequemen Sitz geprüft und ihr schönes cremefarbenes Fell genau untersucht, ob sich womöglich irgendeine unbefugte Kreatur darin niedergelassen hatte.
Nachdem diese ausgedehnte Prozedur beendet war, nahm Evadne ihr Frühstück ein (meist ein Schälchen Porridge und etwas geräucherten Schellfisch), dann stellte sie eine weiße Geranie in ihr Küchenfenster. Damit signalisierte sie, dass sie »zu Hause« war, und von da an war ihr Tag so vollgepackt mit Ereignissen, dass sie kaum Zeit fand, Luft zu schöpfen. Der Grund für ihre Beliebtheit war ganz einfach. Evadne war eine erstaunlich gute Zuhörerin.
Man trifft selten einen Menschen, der sich mehr für andere interessiert als für sich selbst, und die Einwohner von Ferne Basset hatten Evadnes bemerkenswerte Eigenschaft rasch erkannt. Sie schien immer Zeit zu haben, den Leuten ihre absolute Aufmerksamkeit zu schenken. Nie schweifte ihr Blick zum Zifferblatt ihrer hübschen Standuhr, nie wurde sie durch deren melodisches Schlagen abgelenkt. Egal worum es ging, sie zeigte sich stets mitfühlend. Und sie war absolut diskret.
In schwierigen Lebenslagen fanden die Leute unweigerlich zu ihr. Ständig saß irgendein bekümmertes oder aufgeregtes Geschöpf auf dem bequemsten Sessel in dem kleinen überladenen Wohnzimmer und redete sich alles von der Seele, während Evadne mit Butterkeksen und Earl Grey für das leibliche Wohl sorgte. Oder nach sechs Uhr mit Noilly-Prat-Wermut und Käsebällchen.
Evadne gab nie einen Rat, was ihre Besucher, wenn sie je darüber nachgedacht hätten, sicherlich verwundert hätte, denn beim Abschied fühlten sie sich immer getröstet. Manche gingen sogar so weit zu sagen, jetzt sähen sie endlich klar, was zu tun sei. Gelegentlich betrachteten sie sogar die Leute, über die sie sich bitterlich beschwert
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