Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
über diese Invasion ärgerte, sondern im Gegenteil ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie nicht in der Lage war, diese »bedauernswerten jungen Leute« wirklich von ganzem Herzen willkommen zu heißen und sich um sie zu kümmern. Sie hatte das Gefühl, ihrem Mann gegenüber unsolidarisch zu sein.
Nachdem Louise sich von ihrer Überraschung erholt hatte, hatte sie Ann gut zugeredet und versucht, ihr klarzumachen, dass sie die Dinge wohl ziemlich schief sähe. Dass nämlich die meisten Leute es überaus tolerant finden würden, dass sie eine solche Situation überhaupt akzeptierte. Und um sich mit Leib und Seele in so etwas hineinzustürzen, müsse man schon, gelinde gesagt, ein paar Schrauben locker haben.
Es war reine Zeitverschwendung gewesen. Ann hatte sich zwar bemüht zuzuhören, doch schon bald merkte man ihr an, dass sie sich ziemlich unwohl fühlte. Louise gab es auf. Doch ein positives Ergebnis hatte dieses Gespräch zumindest. Nicht lange danach kam nämlich ein junger Mann zum alten Pfarrhaus. In dem Augenblick, als Ann ihn sah, spürte sie, wie sie eine Gänsehaut bekam und Kälte durch ihren Körper kroch. Obwohl er geduldig in der Tür stand und seine Stimme leise und höflich war, strahlte er für Ann eine ungeheure Gemeinheit aus. Er sah sie nur einmal an, doch dieser Blick war ihr wie ein Messer vorgekommen, das nach einem Punkt suchte, an dem es zustechen konnte.
In ihrer Angst war sie zu ihrem Mann gegangen und hatte ihm erklärt, sie wolle diesen Menschen nicht im Haus haben. Lionel war natürlich verärgert gewesen, zumal sie keinen plausiblen Grund für diese Einschätzung nennen konnte, doch da ihn die Heftigkeit ihrer Worte beunruhigte, gab er schließlich nach.
Louise hatte sie hinterher gelobt, weil sie standhaft geblieben war, doch Ann meinte, da gäbe es nichts zu loben; sie hatte einfach nicht anders gekonnt. Damals hatte Louise das alles ein bisschen pathetisch gefunden. Doch jetzt verstand sie es. Jetzt, wo es zu spät war.
Der Neuankömmling wurde in der Wohnung über der Garage untergebracht, die eine telefonische Verbindung zum Haus hatte. Er bot an, sich um den uralten Humber Hawk zu kümmern und ihn zu fahren. Ann hatte den Wagen von ihrem Vater geerbt, und allein seine Wartung kostete mehr, als sie sich eigentlich leisten konnte. Lionel, der nicht fahren konnte, war hocherfreut und nahm das freundliche Angebot als erstes Zeichen dafür, dass sich langfristig alles zum Guten entwickeln würde.
Das Auto stand in der Einfahrt, als Louise auf das Haus zuging. Vom Chauffeur war zum Glück nichts zu sehen. Als sie an den hohen Esszimmerfenstern vorbeikam, sah sie Lionel drinnen telefonieren. Er schien erregt, sein grau-weißes Haar stand nach allen Seiten ab wie beim Struwwelpeter, und er fuchtelte mit seinem freien Arm in der Luft herum.
Louise wollte gerade die Eingangsstufen hinaufgehen, als sie Ann erblickte. Sie saß absolut reglos in einem Liegestuhl neben der großen Zeder mitten auf dem Rasen. Louise ging zu ihr.
»Hi. Ich hab dir ein paar Veilchensämlinge mitgebracht. Weiße.« Sie legte das feuchte Päckchen auf den Rasen und setzte sich hin. »Ann?«
Louise merkte plötzlich, dass Ann keineswegs reglos dasaß. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre bebenden Lippen öffneten und schlossen sich immer wieder. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und blinzelte.
»Was um Himmels willen ist denn los?«
»Ach, Louise ... Ich hab etwas so ... Schreckliches getan ... ich kann es dir gar nicht sagen.« Und dann brach sie in Tränen aus. Louise legte einen Arm um die schmalen Schultern ihrer Freundin, und Ann weinte und weinte und spürte dabei immer mehr, wie sehr sie das nötig gehabt hatte.
»Erzähl's mir.«
»Es ist zu furchtbar.«
Louise überlegte, dass zwischen den Dingen, die Ann und die sie selbst als furchtbar empfinden würden, Welten lagen. »Du hast doch wohl nicht schon wieder die alte Craven beim Blumendienst in der Kirche übergangen?«
»Ich hatte einen ... Streit. Mit Carlotta.«
»Wie schön für dich.«
»Sie ist fortgelaufen.«
»Kann ich mir gut vorstellen.« Louise hatte ihre eigene Meinung über Carlotta.
»Lionel kann sie nicht finden. Er hat es schon überall versucht.«
»Ist das alles?«
Nach einer langen Pause flüsterte Ann: »Ja.« Sie hatte aufgehört zu zittern, war aber ganz blass geworden. Ihre Augen irrten umher, glitten über Louises Schulter,
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