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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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sprang ein bemalter Vogel heraus und verkündete, daß es halb zwölf war.
    Es saß auf der Sofakante. Das noppige Material kratzte ihn am Hintern. «Was kann da wohl passiert sein?»
    Sie warf ihm die Zigarettenpackung zu und blickte sich im Zimmer um. Dann stand sie auf, wanderte umher, besah die Bücherregale und runzelte die Stirn. «Wie sieht sie denn aus, deine Schwester?»
    Tommy holte einen Schnappschuß hervor, den Sadie ihm vor über einem Jahr geschickt hatte. Sie trug das Haar auf dem Kopf hochgetürmt und hatte etwas an, das nach einem Abendkleid aus Samt aussah. Um den Hals lag eine Perlenkette.
    Sie stand auf, ließ ihre Zigarette, nur halb aufgeraucht wie die anderen, in den sauberen Aschenbecher fallen und sagte nur: «Na ja, wenigstens bist du jetzt drin; du hast also ein Dach über dem Kopf.»
    «Also, ich weiß nicht recht, ob ich hierbleiben möchte – allein, meine ich. Ich meine, Angst habe ich nicht direkt …» Aber er hatte welche.
    «Ich habe einen Freund. Soll ich den anrufen?»
    Er folgte ihr die wenigen Schritte zur Tür. «Wer ist es denn?»
    Ihre Antwort war indirekt. «Er könnte etwas wissen.»
    Sie musterte ihn nachdenklich, mit etwas schief gelegtem Kopf und halbgeschlossenen Augen, und Tommy merkte, daß sie ihre Gedanken vor ihm verbergen wollte. So hatte ihn Sid auch immer angesehen, wenn er sagte, er wolle nach London.
    Es stand ihr übers ganze Gesicht geschrieben, daß Sadie wirklich verschwunden war.

16
    U M SECHS U HR MORGENS wurde Tommy durch ein Klopfen an Sadies Wohnungstür jäh aus einem Traum gerissen. Um bis an die Bewußtseinsschwelle vorzudringen, hatte er das Gefühl, sich gegen einen starken Druck zur Wasseroberfläche hochkämpfen zu müssen.
    Und der Traum, den er langsam abstreifte, hatte von Wasser gehandelt. Ein großer Strom, der Traumbilder mit sich führte: Sadie und er, wie sie durch eine wäßrige Scheibe in ein Haus blickten, das er nicht kannte, während sie und das Haus von einer Flutwelle mitgerissen wurden; sie beide, wie sie in einem kleinen Boot auf kurzen, harten Wellen dümpelten und vergebens ruderten, bis die Strömung sie forttrug. Der Traum war farblos gewesen, schwarzweiß. Dunkelgraues Wasser, bleiches Haus und ihre noch bleichere Haut, die vor dem düsteren Hintergrund wie mondbeschienen leuchtete. In der Ferne tutete ein Nebelhorn.
    Und so ruderte Tommy beim Erwachen mit den Armen immer noch im Wasserdunkel, und das Nebelhorn, so ging ihm auf, mußte das Klopfen an der Tür gewesen sein. Er blickte sich um, blinzelte durch einen Schleier aus trübem, grauem Licht, das eher verwirrte als erhellte. Der Raum sah aus, als wäre er voller schwebender, schwankender Dinge, die Möbel waren so verschwommen wie die Vorhänge der Küchennische. Ein Raum, den er wie das Haus im Traum nicht kannte. Er wußte nicht, wo er war.
    Als er begriffen hatte, daß da geklopft wurde, wollte er aufmachen und stolperte in seiner Eile über den kleinen Schemel, und erst im letzten Augenblick fiel ihm ein, daß Sadie wohl kaum an ihre eigene Tür klopfen würde – Tommy blinzelte die beiden Männer an, die da am Fuß der Backsteinstufen standen. In ihrer unbeweglichen Schattenhaftigkeit hätten sie aus seinem Traum sein können, trotzdem sahen sie eindeutig aus wie Verfolger. Doch dann riß er die Augen auf. Selbst er erkannte einen Polizisten, wenn er ihn sah. Und tauchten sie nicht immer pärchenweise auf? Er kam sich schutzlos vor, mit seinen nackten Füßen und nur mit seinem alten Flanellnachthemd bekleidet. Die beiden wirkten so total angezogen und unverwundbar wie Ritter in schimmernder Rüstung.
    Sie zeigten ihm ihren Ausweis. Sergeant Roy Marsh von der Themse-Division und Constable Ballinger von der Limehouse-Wache. «Dürfen wir reinkommen?» fragte der Wachtmeister mit dem Versuch eines verlegenen und sparsamen Lächelns.
    «Sie haben sie also gefunden? Sadie?» Er dachte, wenn er ihnen den Eintritt verwehrte, würde er auch alles abwehren können, was er in seinem tiefsten Innern bereits wußte.
    «Wenn wir mal reinkommen dürften?»
    Die Frage kam von Sergeant Marsh. Tommy war zwar mager, aber er schien den ganzen Türrahmen auszufüllen. «Was ist passiert?» fragte er.
    «Bist du mit Sarah Diver verwandt, Junge?»
    Tommy nickte. «Ich bin ihr Bruder.»
    «Es hat leider einen … Unfall gegeben.»
    Tot. Tommys Hand fiel vom Türrahmen herunter, dann trat er zurück. Tot. Das bedeutete «Unfall» immer in der Flimmerkiste, aber er hätte nicht

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