Inspector Jury besucht alte Damen
gedacht, daß die Polizei so was im wirklichen Leben tatsächlich sagen würde. Mit dem Wort füllten die beiden das Zimmer aus wie riesige Schatten in einem Zeichentrickfilm, die an den Wänden hochhüpfen und sie halb bedecken. Tommy war zumute wie in seinem Traum, als würde er unaufhaltsam von einer Strömung mitgerissen, zusammen mit seltsamen Bildern und Hausrat: umgedrehten Tischen, zerbrochenen Stühlen. Nichts ergab einen Sinn.
Der von der Flußpolizei, dieser Roy Marsh, sagte: «Ich bin derjenige, der sie gefunden hat. Tut mir leid.»
Marsh war ein muskulöser Mann mit kantigem Gesicht, doch seine Stimme überraschte Tommy, denn sie klang leise und sanft. Tommy mußte dabei an samtige Katzenpfoten denken. Eine kleine, rasiermesserdünne Narbe zog einen seiner Mundwinkel ein wenig hoch und gab seiner Miene etwas Ironisches. Er war für den kleinen Stuhl, auf dem er saß, zu schwer und betonte im Sitzen nur noch, wie verspielt und feminin dieser war. Da blieb Ballinger lieber stehen, an eine Vitrine gelehnt, in der sich ein paar Nippessachen, Zeitschriften und Bücher befanden.
Marsh zog jetzt eine kleine Handtasche aus einer braunen Einkaufstüte, eins von diesen Dingern, die Frauen «Unterarmtasche» nennen. Er reichte sie Tommy, und der nahm sie und spürte, wie klamm und feucht sie war. Er runzelte die Stirn. Wollten sie damit etwa andeuten, daß nicht mehr von Sadie übriggeblieben war? Hielten sie das für einen Talisman oder ein Amulett? Sie war weinfarben und hatte einen Einsatz aus Schlangenleder. Was sollte er wohl ihrer Meinung nach damit anstellen?
Schon wieder zogen sie etwas aus dieser unpassenden Tüte, als kämen sie von einem Einkaufsbummel: eine Puderdose aus demselben Schlangenleder wie die Handtasche, eine kleine Haarbürste, einen Kamm, einen Lippenstift ohne Hülse. Sergeant Marsh reihte alles sorgfältig auf dem Tisch auf, wo sie wie antike, von Wasser zerstörte Artefakte aussahen.
Strandgut nach einer Flutwelle, dachte Tommy, hob jedes Stück auf und legte es wieder hin. Er kniff die Augen zusammen. Wenn er sie schloß und schnell den Kopf schüttelte, dann würden sie verschwinden – Handtasche, Lippenstift, Polizei. Doch sie schienen zum Bleiben entschlossen. «Woher wissen Sie, daß dieses Zeug da Sadie gehört?» fragte er dumpf.
«Daher.» Roy Marsh ließ ein kleines Plastiketui auf den Tisch fallen, wie eine Trumpfkarte. «Daher. Leihzettel aus der Bücherei, eine Kreditkarte –»
Tommy runzelte die Stirn und stupste sie mit dem Finger an. «Sie hat nie eine Kreditkarte gehabt. Einmal hat sie irgendwas auf Raten gekauft. Kreditkarten haben doch nur die feinen Pinkel.»
Roy Marsh lächelte. «Die hat heute fast jeder, Tommy.» Und er fuhr mit dieser gelassenen, sanften Stimme fort: «Jemand muß sie identifizieren.»
«Ich dachte, das hätten Sie schon», Tommy deutete mit dem Kopf auf die Sachen auf dem Tisch, «– mit Hilfe dieser Sachen.»
Der Sergeant beugte sich weiter vor. «Eine amtliche Identifizierung. Tut mir leid. In der Regel macht das die Familie. Ehemann, Eltern …»
«Gibt es nicht. Nur Tante und Onkel. Sie heißen Mulholland», setzte er hinzu, als er sah, wie das Notizbuch gezückt wurde. «Wir wohnen in Gravesend.» Böse starrte er Roy Marsh an. «Bisher haben Sie mir noch nicht gesagt, was passiert ist.» Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß Sadie etwas zugestoßen sein sollte, aber es war wohl besser, er spielte mit. Schließlich hatte er noch vor einer Woche mit ihr gesprochen, oder? Tommy schnappte sich seine Jeans vom Schlafsofa und zog seine Stiefel unter dem Sofa hervor.
Roy Marsh blieb einen Augenblick stumm. «Man hat die Leiche auf einer Slipanlage bei Wapping Old Stairs gefunden. Aber es steht noch nicht fest, ob es sich um deine Schwester handelt», setzte er rasch hinzu.
«Ertrunken?»
Wieder zögerte Roy. «Nein.» Er zögerte noch einmal und blickte Ballinger an. «Erstochen.»
Tommy ließ den Stiefel fallen, den er gerade hatte anziehen wollen.
«Wir haben sie vor zwei Stunden gefunden.»
«Dann ist es also letzte Nacht passiert?»
Roy Marsh schüttelte den Kopf. «Vorletzte Nacht.»
«Da haben Sie aber lange gebraucht.» Er mußte sich gegen das rauhe Gefühl in seiner Kehle wehren, das nur Tränen bedeuten konnte, da kam ihm der Zorn gerade recht.
Constable Ballinger fragte: «Hast du ein Foto von ihr dabei, Junge? Einen Schnappschuß oder so etwas?»
Wortlos holte Tommy seine Brieftasche heraus und zeigte ihnen das
Weitere Kostenlose Bücher