Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
Maples auf General Röhm … einen Schwerverbrecher, wie er im Buch steht. Die Geschichte von der Ermordung des kleinen Brunner war nur ein Punkt auf der langen Liste von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«
»Dann hätte der Prozess gegen ihn Brunners Bedürfnis nach Rache doch befriedigen müssen?«
»Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass er jemals vor Gericht gestellt wurde. Vielleicht konnte er fliehen – nach Brasilien, Argentinien … wer weiß?«
»Weiß Roderick denn Bescheid über seine Vergangenheit?«
»Sir Oswald ist sich nicht sicher. Er hat keine Ahnung, wie viel Roderick von damals noch weiß. Vielleicht erinnert er sich an seinen Vater als einen edelmütigen Mann, der ihn an den Strand mitnahm und ihm Geschichten erzählte und Zither spielte. Ob er weiß, dass sein Vater die Totenkopfuniform trug? Das kann keiner von uns sagen. Er sprach nie über die Familie, die er in Deutschland zurückgelassen hatte. Ich dagegen bin mir ziemlich sicher, dass Roderick über seine Vergangenheit Bescheid weiß. Die beiden Gemälde –«
Melrose unterbrach ihn. »Ja, Sie hatten recht. Ich konnte einen Blick auf die Rückseite des Soutine werfen. Da war etwas mit Tinte übermalt.«
»Würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass es ein Hakenkreuz ist. Das haben die nämlich auf konfiszierte Kunst gestempelt. Ich weiß eigentlich nicht, wieso Roderick die Rückseite nicht einfach ausgetauscht hat –«
»Aber wieso sollte er? Es hätte doch niemand einen Grund, anzunehmen, dass es sich um ein Original handelte, und falls es doch jemand tat, dass es Teil der Nazibeute war. Ich verstehe aber, was Sie meinen. Wenn Roderick über die Bilder Bescheid wusste, dann wusste er vermutlich auch das mit Röhm.«
Es entstand eine kurze Pause, die Jury mit der Bemerkung unterbrach: »Das mit Brunner hat Sie nicht überzeugt, habe ich recht?«
»Dass er Billy Maples ermordet hat? Nein. Er war es nicht.«
»Glauben Sie, dass Brunner der Bruder des kleinen Jungen ist, den Röhm erschossen hat?«
»Das ist natürlich gut möglich, nachdem Oswald Maples ja die Geschichte dieses Jungen zurückverfolgt hat. Bloß gibt es da jede Menge Spielraum für Zweifel. Ich kann mir vorstellen, dass es zumindest einen Schwachpunkt in der Kette der Ereignisse gab. Was ist mit diesem Jungen – diesem Hans? Der vielleicht absichtlich erschossen wurde.«
»Möglicherweise –«
»Oder aber zufällig. Könnte das auch sein?«
»Keine Ahnung. Oswald Maples weiß es nicht.«
»Es hört sich aber ganz nach Vergeltung an. Wofür?«
»Erst nahm man an, die Schüsse zielten auf die Waffen-SS auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Später kam der Gedanke auf, dass es vielleicht Absicht gewesen war. Der Schuss war nicht speziell auf Röhms Sohn gerichtet gewesen. Der Schütze wusste bestimmt, dass es sich bei den Jungs nicht um Juden handelte, sondern dass es Kinder des Reichs waren. Das konnte er an der Uniform der Hitlerjugend erkennen.«
»Woher wollen Sie wissen, dass Sir Oswald Maples sich nicht einfach irrt?«
»Das weiß ich nicht. Ich sehe aber keinen Grund, an ihm zu zweifeln.«
»Es gibt allen Grund dazu. Die Geschichte ist viel zu – zu überdreht. Das Werk eines fantasierenden Gehirns.« Melrose runzelte heftig die Stirn.
Jury prustete los. »Das werde ich ihm aber sagen. Hören Sie: Würden Sie die Geschichten über all die deutschen Offiziere, die Elie Wiesel zur Strecke brachte, als das Werk eines fantasierenden Gehirns bezeichnen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Sind Sie vielleicht der Ansicht, Codes zu entschlüsseln wäre Fantasterei? O nein, bei diesem Job lernt man, das zu sehen, was da ist, und nicht das, was nicht da ist.«
»Trotzdem –«
»Sie argumentieren keineswegs auf der Grundlage von Beweisen, Sie gehen nur nach Ihren Gefühlen diesem Menschen gegenüber – Kurt Brunner.«
»Und das gilt Ihnen nicht als Beweis? Dieser Mensch selbst?«, konterte Melrose.
»Nein. Nicht mehr, seit ich Hamlet gelesen habe und in den Polizeidienst gegangen bin.«
»Haben Sie denn nie das Gefühl, Sie wissen, ob ein Zeuge schuldig ist oder nicht?«
»Selbstverständlich habe ich das. Aber das ist erst der Anfang. Das ist es nicht, was sie ins Kittchen befördert.«
Melrose stand auf und schob die Hände in die Hosentaschen. »Es ist doch so: Wir reden hier nicht darüber, dass Brunner Billy Maples aus, sagen wir, persönlicher Habgier erschossen hat oder weil Billy seine Schwester geschwängert hat oder
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