Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Inspektor Jury schläft außer Haus

Titel: Inspektor Jury schläft außer Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
Withersbys prophetische Fähigkeiten schon etwas beeinträchtigt hatte, hörte ihr kaum einer zu. Aber ein Unglück war’s schon. Nur eine Nacht vor der Entdeckung von Mr. Ainsleys Leiche war in einem kaum einen Kilometer entfernten Gasthof eine andere Leiche gefunden worden – die eines gewissen William Small Esq.
    Nachdem es sich herumgesprochen hatte, daß ein Mörder unter ihnen weilte, blieben die Dorfbewohner in ihren guten Stuben und an ihren Kaminen sitzen, aber wahrscheinlich hätten sie das bei diesem Schnee sowieso getan. Seit zwei Tagen hatte es in ganz Northamptonshire oder vielmehr im ganzen Norden Englands ununterbrochen geschneit – herrlich weichen Schnee, der sich auf den Dächern türmte und in den Ecken der Fenster festsetzte, deren bleigefaßte Scheiben durch den Widerschein des Feuers in goldene und rubinrote Quadrate verwandelt wurden. Mit den Schneeflocken, die vom Himmel wirbelten, und dem Rauch, der aus den Kaminen stieg, sah Long Piddleton trotz des eben geschehenen Verbrechens wie eine Weihnachtspostkarte aus.
    Am Morgen des 19. Dezember hörte es dann endlich auf zu schneien, und die Sonne kam zum Vorschein; sie schmolz gerade so viel von dem Schnee, daß man die hübsch gestrichenen, ja geradezu schon verschwenderisch farbig bemalten Häuser sehen konnte. Bis zur Brücke nahm sich die Hauptstraße je nach dem Geschmack des Betrachters bezaubernd, faszinierend oder einfach grotesk aus. Sie sah aus, als sei sie von einem Kongreß wild gewordener Anstreicher gestaltet worden. Vielleicht hatten sie einfach nur den für Northamptonshire typischen Kalkstein satt gehabt und in Eiskremfarben geschwelgt, da etwas Erdbeerrot, dort etwas Zitronengelb, weiter hinten ein Tupfen Pistaziengrün und dann ganz unvermittelt ein Klacks Smaragdgrün. Mittags, wenn die Sonne am höchsten stand, glitzerte die Straße richtig. Ihr Licht färbte die rostbraune Brücke am Ende der Straße so dunkel, daß sie beinahe mahagonifarben wirkte. Einem Kind mußte es vorkommen, als würde es zwischen riesigen Fruchtbonbons auf eine Brücke aus Schokolade zugehen.
    Nicht gerade der passende Ort für einen Mord, geschweige denn für zwei.

    «Wenn Sie kurz beschreiben könnten, was sich zugetragen hat, Sir, unter welchen Umständen die Leiche gefunden wurde», sagte Superintendent Charles Pratt, Polizeizentrale für Northamptonshire, der gerade gestern erst in Long Piddleton gewesen war.
    Melrose beantwortete die Fragen, während Wachtmeister Pluck danebenstand und eifrig mitschrieb. Pluck war dünn wie ein Strich, hatte aber ein rundes, rosiges Engelsgesicht, das durch die beißende Kälte noch rosiger wurde, so daß es aussah wie ein Apfel am Stiel. Er war sehr tüchtig, wenn auch ziemlich geschwätzig.
    «Soviel Ihnen bekannt ist, war dieser Ainsley also vollkommen fremd hier? Genau wie der andere –» Pratts konsultierte sein Notizbuch und klappte es dann wieder zu. «Dieser William Small.»
    «Soviel mir bekannt ist, ja», sagte Melrose Plant.
    Superintendent Pratt hielt den Kopf etwas schief und schaute Plant aus milden blauen Augen an, die sehr arglos aussahen, aber – Melrose war sich dessen bewußt – alles andere als arglos waren.
    «Sie nehmen also an, daß diese Männer nicht von ungefähr hier auftauchten?»
    «Ja, natürlich, Superintendent, Sie etwa nicht?»

    «Geben Sie mir einen Whisky, Dick – pur bitte.»
    Pratt war gegangen und hatte die Leute aus dem Labor mitgenommen; Melrose Plant und Dick Scroggs waren also wieder allein in der Hammerschmiede.
    «Und für Sie auch einen, Dick.»
    «Nehm ich gern an», sagte Dick Scroggs. «Was für ein Schlamassel!» Obwohl inzwischen schon ein paar Stunden vergangen waren, hatte Dicks Gesicht immer noch keine Farbe bekommen. Er hatte die Untersuchung durch den Pathologen und den Abtransport der Leiche, die in eine Plastikplane gewickelt worden war, aus nächster Nähe miterlebt. Der Superintendent hatte Pluck zurückgelassen, damit er das Zimmer des Opfers versiegelte. Bei dieser Gelegenheit erlebten sie dann ihren zweiten Schock; sie entdeckten, daß der Mörder sich ein weiteres groteskes Detail hatte einfallen lassen – in dem Bett des Opfers steckte die Figur des «Jack».
    Kein Wunder also, daß Dick Scroggs immer noch zitterte, als er das Fünfzig-Pence-Stück einstrich, das Melrose auf den Tresen gelegt hatte. Einen Augenblick lang starrte jeder auf sein Glas, allein mit seinen Gedanken.
    Allein – das heißt, wenn man von Mrs. Withersby absah,

Weitere Kostenlose Bücher