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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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ermöglichte es dem Sergeant, raschelnd eine Zellophanfolie von einer Schachtel zu ziehen. Offensichtlich hatte er sein heikles Manöver beendet, denn jetzt klang seine Stimme belegt. «In Dev’n, S’r–»
    «Tröpfeln Sie den Hustentropfen unter die Zunge, Wiggins», sagte Jury geduldig.
    «Oh, entschuldigen Sie, Sir. Da gab es diesen Fall vor etwa zehn Monaten, Ende Februar. Eine junge Frau namens Sheila Broome. Ich hätte das wohl glatt ignoriert, wäre da nicht diese Beschreibung der Leiche in situ gewesen. Die Beamten haben damals dafür gesorgt, daß der Fall nicht publik wurde, da sie Nachahmungen befürchteten. Aus gutem Grund. Sie wurde in einer bewaldeten Gegend an der A 303 in der Nähe der Abfahrt nach Taunton gefunden. Sie war erdrosselt worden, offensichtlich mit ihrem eigenen Schal. Na ja, es könnte Zufall sein …»
    Jury starrte blind auf Cyril, der zuerst die eine, dann die andere Pfote an die großen Schneeflocken drückte, die gegen die Fensterscheibe flogen. Ein Serienmörder. Die schlimmste Sorte. «Wollen wir’s hoffen. Fahren Sie zum Polizeipräsidium in Somerset.»
    «Somerset ist dafür nicht zuständig, Sir. Es ist knapp hinter der Grenze.» Pause. «In Devon.»
    «Dann rufen Sie eben Exeter an.»
    Wieder entstand eine Pause, und man hörte leise Papier rascheln. Es schien ein Problem zu sein, das zwei Hustentropfen erforderte. Wiggins matt: «Das ist doch nicht etwa Macalvies Fall, Sir?»
    Jury mit einem vagen Lächeln: «Jeder Fall in Devon ist Macalvies Fall.»

6
    I M S CHNEE VOR DER H AMMERSCHMIEDE war nur eine schmale Spur zu erkennen, die Miss Crisps Hund, ein Jack Russell-Terrier, gemacht hatte, als er den Trödelladen seines Frauchens auf der anderen Straßenseite verließ, um seine nachmittäglichen Runden durchs Dorf zu drehen.
    Durch das verträumte Durcheinander von malerischen Läden und kleinen Wohnhäusern rollte das sonore Dröhnen der Kirchturmglocke über die High Street und am Pub vorüber, wo es hoch oben auf einem Regal der Schmied einer Kaminuhr aufgriff und es mit einem Bong auf seiner Esse nachahmte. Die Uhr über ihm schlug fünf.
    Für einige Einwohner von Long Piddleton war dies ein Einberufungsbefehl. Bis zur Öffnung war es zwar noch eine halbe Stunde hin, aber Scroggs drückte bei den Ausschankbestimmungen häufig ein Auge zu, wenn es sich um Stammgäste handelte. Einer von ihnen war die halbe Meile von Ardry End mit dem Fahrrad gekommen und saß jetzt an einem Tisch am großen Erkerfenster. Er hatte die Beine ausgestreckt, und an seiner Hose klemmten noch immer die Fahrradklammern. Über das Lesezeichen in der Mitte seines Buches hatte er schon hinweggelesen.
    Da er kein Fan von Thrillern war, hätte er normalerweise alle Kapitel bis aufs letzte überschlagen und unwesentliche Details, die allerdings für die Auflösung notwendig sein konnten, selber ergänzt. Doch seine alte Vorliebe für die Autorin dieses Buches verpflichtete ihn, jede einzelne Seite zu lesen. Na ja, fast jede, dachte Melrose Plant. Liebe mich gefälligst, liebe meine Bücher! Seine Freundschaft zur Autorin hatte sich jedoch nicht auf dieses Buch übertragen, das den belanglosen Titel Die Plumpudding-Gruppe trug. Es sollte sich wohl im Weihnachtsgeschäft verkaufen und hatte irgendwie auf die Regale von Long Piddletons neuer Buchhandlung Wrenn’s Nest gefunden, einer albernen Anspielung auf den Namen des Eigentümers.
    Er fragte sich, ob er nicht doch mal einen Blick auf die letzte Seite riskieren sollte. Das Motiv des Mörders bestand in dem alten Bring-ihn-um-ehe-er-das-Testament-ändert-Klischee. Die Figuren schienen nichts mit sich anfangen zu können und ähnelten den verschwimmenden Gestalten auf einem Bahnsteig, wenn der Zug abfährt.
    Melrose Plant sah auf die Uhr, nicht um festzustellen, ob sich die beiden anderen, die er gewöhnlich in der Hammerschmiede traf, verspätet hatten, sondern weil er wußte, daß es noch eine Leiche geben mußte – ah ja, da war sie schon. Colonel Montague. Schade, dachte er. Er hatte den alten Montague eigentlich ganz gern gemocht, trotz dieses Gin-unter-Palmen-Gehabes, das ihm die Autorin verpaßt hatte. Ja, es gab massig Leichen. So wie es Raymond Chandlers Rezept zur Vermeidung von Langeweile in der Mitte des Buches war, einen Mann mit Revolver ins Spiel zu bringen, so ließ Polly Praed in jedem zweiten Kapitel eine Leiche zurück. Das jüngste Buch von ihr mußte in einem Zustand äußerster Unruhe entstanden sein; denn das unvermittelte

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