Inspektor Jury steht im Regen
sie wieder zurückbekomme.»
«Werd ich.»
«Wozu wollen Sie …? Ach, vergessen Sie’s. Um sie rumzuzeigen, nehm ich an. Sie sind wahrscheinlich überzeugt, daß ich Ivy in eine dunkle Gasse gezerrt habe und – was ist denn eigentlich wirklich passiert, Superintendent?»
«Das versuchen wir ja herauszubekommen. War sonst noch jemand im Pub, den Sie kannten?»
Er wollte den Kopf schütteln, sagte dann aber: «Ja, Paul war da. Paul Swann. Er wohnt in der gleichen Straße. Wenn er nicht im Running Footman gewesen wäre, hätte ich bestimmt noch bei ihm reingesehen, um mit ihm zu reden – wirklich Pech.»
«Vielleicht gehe ich mal bei ihm vorbei und unterhalte mich mit ihm.»
«Geht nicht. Er ist nicht da. Hat gesagt, daß er heute schon in aller Frühe nach Brighton fährt.»
«Wohin in Brighton?»
David kratzte sich am Kopf. «Vielleicht nach Rottingdean, das hat so was Künstlerisches. Er ist Maler.»
Jury machte sich eine Notiz und sagte: «Dann ist Miss Childess Ihrer Meinung nach einfach weggegangen, als das Pub zugemacht hat. Hatten Sie irgendwelche gemeinsamen Freunde? Bekannte?»
Er runzelte die Stirn und rutschte in den Sessel zurück. «Nein.»
«Sie wissen auch von niemandem, den sie als Feind ansah?»
David Marr schüttelte den Kopf und griff nach dem Waschlappen. Er tunkte ihn in den Rest seines Drinks und klatschte ihn sich auf die Stirn.
«Wissen Sie, Sie wirken eher irritiert als unglücklich über Ivy Childess’ Tod.» Jury stand auf, um zu gehen.
Der Waschlappen bewegte sich, als David Marr sagte: «Meine Güte, Superintendent, ich bin nicht irritiert. Ich sterbe.» Er zerrte den Lappen vom Gesicht, lächelte Jury schwach an und fragte: «Bekomme ich noch ’nen Glimmstengel?»
5
F IONA C LINGMORE SASS an ihrem Schreibtisch, hatte den Spiegel an ein Wörterbuch gelehnt und benutzte ihren Eyeliner mit einem feierlichen Ernst, als ob sie den Schleier nehmen wolle. Die rechte Hand, die den schlanken Zylinder des Lippenstifts hielt, wurde von der linken gestützt, und die andächtige Pose verstärkte noch diesen Eindruck. Die Pose und das schwarze Kopftuch, das ihre schweren blonden Locken zurückhielt, bedeuteten Fionas größtmögliche Annäherung an ein Nonnenkloster.
Wächter über ihr kleines Arsenal von kosmetischen Produkten war der Kater Cyril, der anscheinend nie müde wurde, diese tägliche Metamorphose zu verfolgen, als erwarte er, daß sich einmal ein Schmetterling aus diesem schwarzen Kokon erhöbe.
Cyril verstand Jurys Eintreten als Signal und glitt vom Schreibtisch. Der Kater wußte inzwischen, daß dies den Zutritt zu Racers Büro ankündigte – heiliger Boden, für Katzen streng verboten.
«Hallo, Fiona», sagte Jury.
Als sie merkte, daß Jury dastand und lächelte, warf sie das Kosmetiktuch, mit dem sie sich die Lippen abgetupft hatte, in den Papierkorb. Dann zerrte sie sich rasch das schwarze Viereck vom Kopf, und ihre adretten blonden Locken schnellten darunter hervor. Ebenso flink fegte sie die Kosmetika in die schwarze Tiefe ihrer Handtasche. Gelockt und gelackt wandte sie sich Jury zu.
«Sie sind früh dran. Möchten Sie einen Tee?»
«Gerne. Haben Sie schon diese Akte von der Gerichtsmedizin bekommen?»
«Mmm.» Mit dem Wasserkessel in der einen und einer angeschlagenen Tasse in der anderen Hand wies sie mit einem Kopfnicken auf ihren Schreibtisch. Sie schwenkte den Teebeutel und reichte Jury die Tasse.
«Und was hat er vor?» fragte Jury, seit langem an Besprechungen mit seinem Vorgesetzten gewöhnt, nach denen er sich zwar älter, aber dennoch kein bißchen weiser fühlte.
«Woher soll ich das wissen?» Dies hieß keineswegs, daß sie Jurys Frage achselzuckend abtat, sondern vielmehr, daß ihr Vorgesetzter selten etwas vorhatte, was sie oder Jury sonderlich interessierte. Sie inspizierte einen Fingernagel und griff sich dann ihre Nagelschere. Fiona nahm sich jeder Unvollkommenheit rasch und kurzerhand an. Sie erinnerte Jury an einen Aquarellisten, der auf plötzliche Veränderungen in Licht und Schatten sofort reagiert und eingreifen muß, ehe die Farbe trocknet.
«Ich warte drinnen.» Jury nahm seine Tasse und die Akte und trat, von Kater Cyril begleitet, ins Büro seines Chefs, das Fiona offensichtlich gerade wieder «lüftete»; denn das Fenster hinter dem Schreibtisch stand ein paar Zentimeter weit offen. Mit seinen selbstgerollten Zigarren und selbstgestrickten Vorträgen schaffte es Racer stets, allen überschüssigen Sauerstoff zu
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